30.11.2018

Nicht zu viel über seine Wurzeln grübeln (3/3)

Von Martin Bartholmy

Titelbild

Foto: John Lucia via Flickr / CC BY 2.0

Die US-Bürgerrechtsbewegung hat sich zunehmend von universellen Zielen verabschiedet und sich identitätspolitischen Partikularinteressen zugewandt.

„This is an invitation across the nation,
A chance for folks to meet.
There’ll be laughing and singing and music swinging,
Dancing in the streets.“
(Martha and the Vandellas: Dancing in the Streets)

In der Autobiografie1 erzählt Malcolm X folgende Episode aus seiner Zeit in Harlem Anfang der 1940er-Jahre:

„Ein paar weiße Männer, die in Harlem herumhingen, es waren Jüngere und wir nannten sie ‚Hippies‘, benahmen sich mehr wie Neger als die Neger selbst. Speziell einer quatschte noch ‚hipper‘ als wir, und hätte einer von uns zu ihm gesagt, auch er mache einen Unterschied zwischen den Rassen, er hätte eine Schlägerei angefangen. […] Selbst einen Zoot Suit trug er, und er schmierte sich dick Pomade in die Frisur, damit’s so aussah, als hätte er schwarzes, geglättetes Haar.“

Weiße, die sich so gaben, als seien sie schwarz, waren damals eine Seltenheit. Es war jedoch der Anfang eines Trends, der in den 1950er-Jahren mit den Beatniks Fahrt aufnahm, eine Entwicklung, die Norman Mailer in seinem Essay „The White Negro“ (1957/59) theoretisch untermauerte und bekannt machte. Für Mailer hängt das Phänomen des Hipsters, der sich schwarze Kultur aneignet, zusammen mit „den psychischen Verheerungen, welche die Konzentrationslager und die Atombombe im Unterbewusstsein fast aller“ angerichtet haben, und die einzige mögliche Reaktion bestehe darin, „mit dem Tod als einer unmittelbar drohenden Gefahr zu leben, sich von der Gesellschaft abzuscheiden, ohne Wurzeln zu leben“. Der Ursprung dieser „hippen“ Lebensweise sei „der Neger, denn seit zwei Jahrhunderten lebt er bereits am Rande zwischen Totalitarismus und Demokratie.“

Fortschritte und Rückschritte

Für weite Strecken des 20. Jahrhunderts waren die USA, zum Teil neben der Sowjetunion, das Modell dafür, was Menschen in aller Welt erreichen wollten, entweder, indem sie dorthin auswanderten, oder aber als Muster für ihre eigenen Gesellschaften, für ihre eigenen Hoffnungen und Lebensstile. So wie das US-amerikanische Modell durch die Weltwirtschaftskrise ab 1929 erste Macken bekam, verlor die Sowjetunion durch den Stalinismus an Glanz. Durch den New Deal in den USA und den Erfolg beider Systeme im Zweiten Weltkrieg konnten sie noch einmal zu Leuchtfeuern werden, aber diese Phase dauerte nicht lange und ging in den 1960er-Jahren mit dem Vietnamkrieg und der Niederschlagung des Prager Frühlings endgültig zu Ende.

„Aus Weltschau wurde Nabelschau.“

Bestimmte historische Perioden laufen aus wie Konjunkturwellen, das ist in der Moderne nichts Neues. Neu war jedoch, dass als Reaktion auf diesen Einschnitt kein anderes, vorwärtsgewandtes Modell entstand. Das, was an die Stelle der abgedankten Zukunftsvisionen trat – die Ökologie, der dritte Weg und die neuen sozialen Bewegungen –, war pessimistisch und individualistisch. Pessimistisch, da weniger bestimmte gesellschaftliche und wirtschaftliche Erscheinungen als zu überwindende Probleme angesehen wurden, sondern Unveränderliches, wie die Endlichkeit des Planeten und das Böse im Menschen. Ausdruck fand dies in Abziehbildern wie „der blaue Planet“ und „der Holocaust“, die man sämtlichen Erscheinungen des Lebens aufdrückte, und wodurch ein Gegensatz hergestellt wurde zwischen guter natürlicher Natur und böser menschlicher Natur. Individualistisch war dies, da der Blick wegging von Fragen und Problemen, die mit vergleichsweise universellen Rechten und Interessen zu tun hatten, und hin zur Identität des Einzelnen, die als persönliche, unhinterfragbare Essenz begriffen wurde. Aus Weltschau wurde Nabelschau und der Mensch vom Subjekt der Geschichte zum Spielball der Natur und seiner eigenen Befindlichkeiten degradiert.

Das heißt nicht, die Bürgerrechtsbewegung in den USA sei von vornherein rückschrittlich gewesen. Auch die vielfältigen anderen Bewegungen, die durch die Bürgerrechtsbewegung angeregt in vielen Teile der westlichen Welt entstanden, und die versuchten, bestimmte Rechte zu erkämpfen, haben den Rückzug ins Private, ins Schneckenhaus der eigenen Identität nicht notwendig ausgelöst – wenn sie auch ein wichtiger Teil davon waren. Indigene, Frauen, Schwule, Lesben, Behinderte usw. sollen die gleichen Rechte und Möglichkeiten haben wie alle anderen, und für solche universellen Rechte zu kämpfen, ist nicht rückschrittlich.

„Die neuen sozialen Bewegungen hatten bereits frühe Formen einer separatistischen Identitätspolitik entwickelt.“

Anfangs versuchten die neuen sozialen Bewegungen, getrennt zu marschieren, vereint zu schlagen und eine gruppenübergreifende Solidarität herzustellen, die sogenannte Regenbogenkoalition. Das gelang nicht. Aus zwei Gründen: Zum einen wurde die Bürgerrechtsbewegung in dem Maße stärker bekämpft, wie sie soziale und wirtschaftliche Rechte forderte, nämlich, wie auch Martin Luther King gegen Ende seines Lebens, faire Löhne und Arbeitsbedingungen sowie guten Wohnraum. Die oft brutale Reaktion bestimmter weißer Interessensgruppen und des Staats, ließ die Bewegung zersplittern, was umso leichter möglich war, als sie – und stärker noch andere Teile der neuen sozialen Bewegungen – bereits frühe Formen einer separatistischen Identitätspolitik entwickelt hatten, einer Politik, die nicht universelle Rechte betont, sondern kulturelle Eigenheiten, und die für jede dieser Eigenheiten eigene Sonderrechte fordert. Wenn zu einer politischen Bewegung nur jene gehören dürfen, die einen Afro tragen oder Frau sind oder jung sind oder schwul sind usw., dann ist es für jene, gegen die sich diese Bewegungen nominell richten, nicht mehr nötig, ihre Gegner mittels „teile und herrsche“ offensiv zu bekämpfen; die Aufrührer besorgen dies bereits selbst.

Rückzug ins Private

In der Gegenkultur trat Bewusstseinserweiterung schon früh an die Stelle der Verbreiterung der politischen Basis. Wenn der kleinste gemeinsame Nenner darin besteht, dass der Mensch schlecht, die Natur gut und wir alle sehr verschieden sind, dann tut man am besten nichts und zieht sich in sich selbst zurück.

„Free your mind and your ass will follow,
The kingdom of heaven is within.
Freedom is free of the need to be free.“
(Funkadelic, 1970)

In der Gegenkultur wurde aus der Kritik an einem abgewirtschafteten System ein grundsätzliches Aber gegen alles, was westliche Kultur ausmacht, sei es eine Errungenschaft oder nicht, und letztlich galten so Aufklärung, Rationalität und Wissenschaft als die Wurzeln von Holocaust, Sklaverei und Umweltzerstörung. Da jede positive Aussicht fehlte und jede planvolle Veränderung unter Generalverdacht stand, kam zu der Vereinzelung, die das Ende der Solidarität mit sich brachte, die Identifikation mit Opfern.

„Heute kann man den Eindruck gewinnen, die größten Opfer von Gewalt und Ungerechtigkeit am Arbeitsplatz seien prominente Filmschauspielerinnen.“

Anfangs waren Parolen wie „The Student as Nigger“ (Jerry Farber, 1967) oder „Woman Is the Nigger of the World“ (Yoko Ono / John Lennon, 1969/1972) wohl eher als Provokation gedacht. Das änderte sich jedoch rasch, und zahlreiche Identitätsgruppen zankten sich darum, wer das größte Opfer sei. Dem Slogan „Das Persönliche ist politisch“ erging es ähnlich. Anfangs wollte die Frauenbewegung damit zeigen, dass die gesellschaftliche Trennung zwischen männlicher Lohnarbeit und weiblicher Hausarbeit falsch ist: Wurde über erstere, beispielsweise bei Streiks, öffentlich verhandelt, galt letztere, obgleich sie der Reproduktion von Arbeitskraft dient, als Privatsache. Rasch verlor dieser Slogan aber solche theoretische Unterfütterung und bedeutete bald nur noch: „Ich bin ich, und alle anderen kotzen mich an.“

Es dauerte nicht lange, und die Identitätspolitik schwappte über die Grenzen jener Milieus, in denen sie sich entwickelt hatte. Das lag vor allem daran, dass selbst die Eliten im Westen das Vertrauen in die eigene Gesellschaft verloren und ihre Kinder, die den Marsch durch die Institutionen antraten und sie beerbten, dieses Vertrauen nie hatten. Waren es in den 1970er- und 1980er-Jahren noch weitgehend Frauen-, Schwulen-, Behindertengruppen und ethnische Minderheiten, die sich als Opfer sahen und Beachtung sowie Sonderbehandlung ob ihrer Identität verlangten, sprangen, da das allzu gut funktionierte, bald viele andere Gruppen auf den Zug auf, und heute kann man den Eindruck gewinnen, die größten Opfer von Gewalt und Ungerechtigkeit am Arbeitsplatz seien prominente Filmschauspielerinnen.

Identität und Essenz

Auch die Inflation der Identitäts- und Opfergruppen ereignete sich wiederum zuerst in den USA, und bereits Mitte der 1990er-Jahre konstatierte der Soziologe Todd Gitlin:

„Im Kern ist das, was heute die identitäre Bewegung in Europa ausmacht, der Kampf darum, wer am meisten benachteiligt ist. In Städten und Vororten, in denen Arbeiter lebten, […] kam es unterdessen zu einer weißen Gegenreaktion. Viele der dort lebenden Weißen fühlten sich ausgegrenzt, ihre wirtschaftliche Lage war unsicher, ihre Wohnviertel verfielen, das Verbrechen nahm zu, und führende Regierungsvertreter zeigten ihnen die kalte Schulter. Auch das Fernsehen schenkte ihnen keine Beachtung – es sei denn vielleicht als Teil des ‚Backlashs‘ [gegen die Bürgerrechtsbewegung]. Missgünstig und auf Rache sinnend zogen sie sich zurück in die Festung ihres Weißseins.“2

„Der Kampf darum, wer am meisten benachteiligt ist, produziert mehr und mehr Opferanwärter.“

Hier hat man im Kern schon, was heute die identitäre Bewegung in Europa ausmacht. Der Kampf darum, wer am meisten benachteiligt ist, wer das größte Anrecht auf Sonderbehandlung hat, wer als Opfer am meisten Mitleid genießen soll und so weiter, dieser Kampf ist eine Abwärtsspirale, die mehr und mehr Opferanwärter produziert.

Identitätspolitik meint eine Identität, die essentiell ist, das heißt, sie sieht im Einzelnen eine Person mit einem unhinterfragbaren und wenigstens zum Teil einzigartigen Kern, der sich nicht oder kaum verändert. Die Identitätspolitik ist eine ins Kulturelle gewendete Version der Rassentheorie, denn ob Eigenschaften genetisch kodiert oder durch kulturelle Tradierung fest in uns eingeschrieben sind, läuft in wesentlichen Teilen auf dasselbe hinaus (man denke an die Opfer in der zweiten und dritten Generation) – mit einem Unterschied: In den älteren Rassetheorien wurden die behaupteten Rassen als große und vergleichsweise einheitliche Gruppen definiert, während eine kulturelle Identität in der Regel bedeutet, dass sich einige Obergruppen in immer kleiner werdende Untergruppen zerlegen – von denen jede für sich beansprucht, in ihrer Substanz einzigartig zu sein. Was heißt, dass sie immun ist gegen jede Kritik (die ja vom Prinzip her nur von außen, also von „Identitätsfremden“ kommen kann), und dass sie wenig an Solidarität interessiert ist, müsste sich diese doch auf andere Identitäten erstrecken, die möglicherweise um dieselben Ressourcen wetteifern.

Gegen Ende seines Lebens, nachdem er sich von der Nation of Islam und ihrem Separatismus gelöst hatte, versuchte Malcolm X, eine neue politische Bewegung aufzubauen, die auch ein Teil der Bürgerrechtsbewegung sein sollte. Der erste Schritt hierzu war, den afroamerikanischen Separatismus zu überwinden.

„Sehr, sehr oft habe ich darüber nachgedacht, wie man den amerikanischen Neger einer vollständigen Hirnwäsche unterzogen hat, damit er sich selbst nie wahrnehmen, nie begreifen kann – […] als einen Teil der nicht-weißen Menschen der Welt. Der amerikanische Neger hat keine Vorstellung von den hunderten von Millionen anderer Nicht-Weißer […], keine Vorstellung davon, dass sie ihm brüderlich gesonnen sind.“

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