11.11.2019

Vom Mauerfall bis heute

Von Sabine Beppler-Spahl

Titelbild

Foto: Sarah Loetscher via Pixabay / CC0

Vor 30 Jahren erstritten DDR-Bürger Demokratie, Freiheit und die Wiedervereinigung. Doch zu oft werden Wählermeinungen ignoriert.

Der Fall der Berliner Mauer am 9. November 1989 steht nicht nur für das Ende des Kalten Krieges und des Stalinismus, sondern auch für den Triumph der Menschen in der DDR. In den Wochen vor dem Mauerfall gingen Hunderttausende auf die Straßen und forderten Pressefreiheit, das Recht, politische Parteien gründen zu können, freie Wahlen – und die Wiedervereinigung. Eine der denkwürdigsten Demonstrationen fand am 9. Oktober in Leipzig statt, wo 70.000 Menschen den Drohungen der Regierung trotzten. Der Mut der Demonstranten ist nicht zu unterschätzen. Nur wenige Monate zuvor hatte die SED-Regierung noch Verständnis für das Massaker am Platz des Himmlischen Friedens in Peking geäußert. Es gab sogar Berichte, dass Krankenhäuser ihre Blutkonserven aufstockten.

Nachdem am 9. November in den Abendnachrichten bekannt gegeben wurde, dass die DDR ein neues Gesetz zur Erleichterung der Ausreise auf den Weg gebracht hatte, strömten Tausende an die Mauer und riefen „Tor auf“. Die verunsicherten und überforderten Grenzbeamten gaben um Mitternacht nach, und in den folgenden drei Tagen erlebte Berlin das „größte Straßenfest der Weltgeschichte". Willy Brandt, West-Berlins ehemaliger Bürgermeister (und erster SPD-Kanzler der Bundesrepublik Deutschland),brachte mit seinem Satz, den er in einem Interview äußerte, die Stimmung und die Hoffnungen des Augenblicks zum Ausdruck: „Jetzt wächst zusammen, was zusammengehört.“

30 Jahre später bleibt nur die Erinnerung an die Begeisterung dieser Tage. Das Jubiläum falle in ein Gesamtklima, das, gelinde gesagt, schwierig sei, mahnte Matthias Platzek, Vorsitzender der von der Bundesregierung eingesetzten Kommission zur Gestaltung des Jahrestages. „Wessi-Bashing" im Osten, „positives Desinteresse" im Westen, so charakterisiert er die Lage. Die Berichte darüber, dass sich die Menschen im Osten wie Bürger zweiter Klasse fühlen, oder die Umfragen, die zeigen, wie gespalten Deutschland nach wie vor ist, scheinen ihm recht zu geben.

„Nicht nur die AfD versucht, sich das Erbe von 1989 anzueignen, um es für ihre eigene Politik zu nutzen.“

Die heutigen Konflikte lassen sich aber nicht auf das alte Ost-West-Gefälle von vor 30 Jahren zurückführen. Im Mittelpunkt steht vielmehr ein Streit über die Bedeutung und das Erbe von 1989. Deshalb sind die Umfragen so widersprüchlich und drücken sowohl Zufriedenheit als auch Ernüchterung aus. Thomas Petersen vom Institut für Demoskopie Allensbach z.B. kommt zu dem Schluss, dass die Spannungen zwischen Ost und West heute geringer sind als vor noch 20 Jahren und die Wiedervereinigung für 60 Prozent der Bürger nach wie vor ein Anlass zur Freude sei. Wenn es heute Probleme zwischen Ost und West gibt, dann sind diese politisch bedingt. Und so dürfte der Plan der Bundesregierung, „Bürgerdialoge" zu organisieren, bei denen Menschen aus Ost- und Westdeutschland zusammenkommen, um über „Erreichtes, Fehlgeschlagenes, Erfolge und Verletzungen zu reden“, das Ziel verfehlen.

Geist von 1989

Am deutlichsten wird der Kampf um die Bedeutung der Ära nach 1989 durch den Aufstieg des Populismus. So konnte die AfD mit ihrem Slogan „Vollende die Wende" drei erfolgreiche Wahlkämpfe in den neuen Bundesländern (Brandenburg und Sachsen im September 2019, Thüringen im Oktober 2019) meistern. In den Medien wurde diese Aneignung des DDR-Widerstands stark kritisiert. Die AfD rede den Leuten ein, dass sie jetzt so ähnlich wie 1989 auf die Straße gehen und das System niederringen müssten. Das stachele die Leute an und diskreditiere die Bundesrepublik, sagte die Publizistin Liane Bednarz. Eine Gruppe ehemaliger Bürgerrechtler der DDR verfasste einen offenen Brief, in dem der AfD die Verbreitung einer „Geschichtslüge“ vorgeworfen wurde. Aber auch die AfD kann auf mehrere ehemalige Dissidenten verweisen, die mit ihr sympathisieren. Und so wird der Kampf um die Interpretationshoheit von 1989 weitergehen.

Im Zentrum der Auseinandersetzung steht die Frage, für welche Werte die Menschen vor 30 Jahren gekämpft haben. In einem Essay für die New York Review of Books spricht der Autor und Historiker Timothy Garton Ash von einer „Welle des antiliberalen Populismus, wo es vor 30 Jahren eine liberale Revolution gab". Der Fehler des Westens nach 1989 sei die Annahme gewesen, die liberalen, westlichen Werte würden sich überall durchsetzen und zur Norm werden. Diese falsche Zuversicht habe zu einer Art Selbstgefälligkeit geführt. Populisten wie die AfD seien nicht die Erben des Geistes von 1989, so Garton Ash. Diesen Anspruch könnten nun die Anti-Populisten erheben, die die Proteste gegen den neuen sozialen Konservatismus im Osten anführten. Er beschreibt eine anti-populistische Demonstration in Prag, bei der „ein Meer von Bürgern begeistert die gelb-blaue Flagge der Europäischen Union schwenkt. Eine beeindruckende Sache".

Doch vieles von dem, was Garton Ash für westliche Werte hält – von Abtreibung bis zu mehr Rechten für Schwule – hat wenig oder gar nichts mit den Motiven und Wünschen der ostdeutschen Demonstranten der 1980er Jahre zu tun. Homosexualität war in der DDR nicht illegal, und Abtreibung war weit verbreitet. Außerdem ist es nicht nur die AfD, die versucht, sich das Erbe von 1989 anzueignen, um es für ihre eigene Politik zu nutzen (die, wie Garton Ash zu Recht sagt, oft von einer fremdenfeindlichen Rhetorik begleitet wird). Das tun auch diejenigen auf der anderen Seite des politischen Spektrums. „Vor drei Dekaden haben wir den Fall der Berliner Mauer gefeiert. Sie war die Mutter aller Mauern […] Heute sind Mauern wieder in Mode gekommen […]. Ein immer größer werdender Teil der Wählerschaft unterstützt inzwischen Politiker, die nach einer Wiederherstellung der souveränen Nationalstaaten rufen“, schreibt Jan Zielonka, Professor für Europäische Politik an der Universität Oxford, in der Zeit.

Nationale Souveränität

Doch die Demonstranten der 1980er Jahre wollten keinesfalls die souveränen Nationalstaaten oder die Grenzen abschaffen. Im Gegenteil: Ihr Wunsch war es, ihre nationale Souveränität von der Sowjetunion zurückzuerlangen. Deshalb nahmen alle Protestbewegungen im Ostblock spezifische nationale Formen an. Als z.B. 1980 die polnischen Arbeiter auf der Lenin-Werft in Danzig in den Streik traten und damit den Umsturzprozess in Gang setzten, war die rot-weiße polnische Flagge überall zu sehen. Sogar das Logo der Gewerkschaftsbewegung Solidarność – rote Schrift auf weißem Hintergrund – spielte auf die polnische Flagge an.

„Mit der Wiedervereinigung forderten die Menschen die Rechte, die ihnen jahrzehntelang verweigert worden waren.“

Auch in der DDR war die nationale Frage von Anfang an präsent. Zwar war der Staat ein Satellit der Sowjetunion und später auf Kredite aus Westdeutschland angewiesen. Aber er hatte sich immer bemüht, seine historischen und kulturellen Verbindungen zum Westen zu kappen. (Während die Bundesrepublik jeden aus dem Osten kommenden Menschen als deutschen Staatsbürger betrachtete, forderte die DDR von den Westdeutschen Visa. Sie bestand auch auf ihrer Bezeichnung „Deutsche Demokratische Republik“ und Ost-Berlin war „Berlin, die Hauptstadt der DDR“.)

Es stimmt zwar, dass die ersten Banner, die eine Wiedervereinigung forderten, erst nach dem Fall der Mauer auf den Demonstrationen zu sehen waren. Doch das lag an den großen Gefahren, die mit dieser Forderung in der DDR verbunden waren. So lautete das ursprüngliche Protestmotto „Wir sind das Volk" und richtete sich gegen die stalinistische Regierung der DDR. Ab Mitte November aber änderte sich das Motto zu „Wir sind ein Volk" – eine Forderung, die sich an die Bundesregierung richtete und nicht mehr ignoriert werden konnte.

Mit der Wiedervereinigung forderten die Menschen die Rechte, die ihnen jahrzehntelang verweigert worden waren. Dazu gehörten ein Ende der Mangelwirtschaft – und die Demokratie. An den ersten freien Wahlen im März 1990 nahmen 93,4 Prozent der Bevölkerung in der damaligen DDR teil – die höchste Wahlbeteiligung, die eine freie Wahl in Deutschland je verzeichnen konnte. Die Ostdeutschen mussten nicht von den Tugenden der bürgerlichen Freiheit und Demokratie überzeugt werden. Denn, wie es der Politikwissenschaftler Robert Rohrschneider 1999 formulierte, sie wussten, was es bedeutet, in einem autoritären System zu leben.1

Einer der erstaunlichsten Aspekte des Jahres 1989 war, dass in ganz Europa nur wenige Machthaber dieses Ereignis erwartet hatten. „Wir haben natürlich gesagt, dass wir an die deutsche Wiedervereinigung glauben, weil wir wussten, dass sie nicht kommen würde“, sagte 1989 der ehemalige britische Premierminister Edward Heath. Als die Wiedervereinigung auf der Tagesordnung stand, wurde deutlich, wie groß und vielfältig der Widerstand gegen sie war. Zu dieser ungewöhnlichen Allianz gehörten prominente ostdeutschen Bürgerrechtler, die westdeutsche SPD und die Grünen bis hin zu vielen westeuropäischen Staats- und Regierungschefs.

„Zahlreiche Grünen-Mitglieder wie auch große Teile der SPD identifizierten sich stärker mit dem Stalinismus, als sie zugeben wollten.“

Mehrere ehemalige DDR-Dissidenten, wie Bärbel Bohley, setzten sich für eine Reform des DDR-Systems ein. Sie und andere identifizierten sich mit der konsumfeindlichen und Umwelt-Rhetorik der westdeutschen Grünen. Zahlreiche Grünen-Mitglieder wie auch große Teile der westdeutschen Sozialdemokraten wiederum identifizierten sich stärker mit dem Stalinismus, als sie zugeben wollten. „Wir waren Anti-Nationalisten", erklärte der ehemalige Grünen-Chef Ralf Fücks in einem Beitrag von 2015. Die Unklarheit und teils offene Ablehnung der Wiedervereinigung führte dazu, dass die SPD die ersten gesamtdeutschen Wahlen verlor (obwohl sie ursprünglich als Favoritin galt). Die Grünen erhielten mit ihrem bizarren Slogan, „Alle reden von Deutschland. Wir reden vom Wetter" nur 3,8 Prozent der Stimmen. (Manche, die im Osten auf den grünen-nahen Listen kandidiert hatten und die Wahl verloren, wie der spätere Bundespräsident Joachim Gauck in Rostock, machten später trotzdem Karriere).

Zum Politiker der Stunde wurde Helmut Kohl, der CDU-Kanzler der Bundesrepublik. Er hatte erkannt, dass die Wiedervereinigung der einzige Weg nach vorne war: „Das Proletariat eilte auf die Straße, ohne zu wissen, was es finden würde. Und es fand Herrn Kohl“, schrieb der amerikanische Autor Ward Just in seinem Roman „The Translator“.2

 

Deutschland und die EU

Auch außerhalb Deutschlands sorgten die Geschwindigkeit und Wendungen der Ereignisse für Besorgnis. Am 28. November stellte Helmut Kohl sein Zehn-Punkte-Programm zur Bildung einer Vertragsgemeinschaft beider deutscher Staaten vor. Die damalige britische Premierministerin Margaret Thatcher forderte daraufhin, dass jedes Gespräch über ein vereintes Deutschland um mindestens fünf bis zehn Jahre verschoben werden solle.3 Der französische Präsident François Mitterrand teilte einer Gruppe von Journalisten mit, dass er die Wiedervereinigung Deutschlands für eine „rechtliche und politische Unmöglichkeit" halte. Ein wiedervereinigtes Deutschland „als unabhängige, unkontrollierte Macht sei für Europa unerträglich. Da sich die mächtigsten Staaten Westeuropas der Wiedervereinigung widersetzen, wurde Kohls zuverlässigster Verbündeter der US-Präsident George H.W. Bush. Der Journalistin Elizabeth Pond zufolge, spielten die USA eine entscheidende Rolle bei der Umkehrung des Widerstands von Großbritannien und Frankreich. Es gab jedoch eine Bedingung für die deutsche Wiedervereinigung – sie sollte innerhalb der Europäischen Gemeinschaft stattfinden.

Kohl, der sich bereits Mitte der 1980er Jahre als „Europakanzler" profiliert hatte, war nicht abgeneigt, die deutsche Wiedervereinigung innerhalb der Strukturen der Europäischen Gemeinschaft durchzuführen. So verschmolz der Prozess der Wiedervereinigung mit den Plänen für die Europäische Union, die im Februar 1992 in die Unterzeichnung des Maastrichter Vertrags mündete. Die weitreichendste Entscheidung von Maastricht – und die am meisten umstrittene in Deutschland – war die Schaffung einer Währungsunion mit einer gemeinsamen Währung. Nach Ansicht der Historiker Andreas Rödder und Heinrich August Winkler akzeptierte Kohl, dass ein wiedervereinigtes Deutschland einer Währungsunion beitreten müsse, um im Gegenzug von Frankreich Unterstützung für die Wiedervereinigung zu erhalten. Aber es war ein Zugeständnis, das auch für die Franzosen seinen Preis hatte. Der französische Staat sollte an die steuerlichen Vorschriften der EU gebunden sein. Wie die Politikwissenschaftlerin Anne-Marie Le Goannec in ihrem Essay „L'Allemagne après la Guerre Froide“ erklärt, war es die Bewunderung Frankreichs für das „Modell Deutschland", die Kohl half, die EU-Steuervorschriften durchzusetzen. Maastricht war jedoch von Anfang an unbeliebt. Und in einem Referendum in Frankreich stimmten im September 1992 nur 50,8 Prozent dafür.

„Vor 30 Jahren haben die Menschen in der ehemaligen DDR nicht dafür gekämpft, der EU beitreten zu dürfen.“

Aber auch in Deutschland war Maastricht unbeliebt. Im Gegensatz zu den französischen Wählern wurde die deutsche Wählerschaft jedoch nie konsultiert. Zum Fehlen einer öffentlichen Abstimmung kam die Schwäche der oppositionellen SPD, die sich nie von ihrer fehlgeleiteten Wiedervereinigungspolitik erholt hat. So war die Unterstützung für ein vereintes Europa in den frühen 1990er Jahren vor allem in der ehemaligen DDR hoch, wo über 85 Prozent dafür waren (verglichen mit 70 Prozent im ehemaligen Westen). Bis 1996 sank die Unterstützung jedoch auf 35 Prozent im Osten und 40 Prozent im Westen, wie die Eurobarometer-Umfragen zeigen.4 Christopher J. Andersen, Professor für Politikwissenschaft an der New York State University, führt den starken Rückgang der EU-Begeisterung auf die Arbeitsplatzverluste und wirtschaftlichen Probleme zurück, die die ehemalige ostdeutsche Wirtschaft plagten.5

Die aktuellen Probleme Deutschlands, die den 30. Jahrestag des Mauerfalls überschatten, können nicht auf eine einzige Ursache reduziert werden. Die Erkenntnis aber, dass die im Westen angebotene Demokratie eingeschränkt und begrenzt ist, hat sicherlich eine entscheidende Rolle gespielt und das Gefühl der Enttäuschung befördert. „Bei der Euro- Einführung war ich ein Diktator“, gab Helmut Kohl später in einem Interview zu.

Es war nicht nur die Abschaffung der D- Mark, die so viele verärgerte. Zu den zutiefst unpopulären politischen Maßnahmen, die wahrscheinlich von den Wählern abgelehnt worden wären wenn sie zur Wahl gestanden hätten, gehören: Die Erweiterung der EU, die Einführung der Freizügigkeit für Arbeitskräfte aus dem noch viel ärmeren Osteuropa (was zu einer Lohndepression führte), die deutsche Militärintervention im Jugoslawienkrieg, die Bewältigung der griechischen Schuldenkrise und der vorübergehende Kontrollverlust der Landesgrenzen. Immer wieder haben die Strukturen der EU verschiedenen deutschen Regierungen ermöglicht, die Wählermeinungen zu ignorieren.

Am 3. Oktober 2019, als die Deutschen den 29. Jahrestag der offiziellen Wiedervereinigung feierten, twitterte die Europäische Kommission: „Tag der Deutschen Einheit! […]16 Millionen DDR-Bürger sind am 3. Oktober 1990 der Europäischen Gemeinschaft beigetreten“. Aber vor 30 Jahren haben die Menschen in der ehemaligen DDR nicht dafür gekämpft, der EU beitreten zu dürfen. Sie haben für Demokratie und bürgerliche Freiheiten gekämpft. Es war ein mutiger Kampf, der auch heute noch nicht beendet ist.

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