15.09.2020

Wie ein wissenschaftlicher Mythos entsteht

Von Philippe Stoop

Titelbild

Foto: Monika Fischer via Flickr / CC BY 2.0

In Deutschland sollen die Insektenpopulationen um rund 75 Prozent zurückgegangen sein. Stimmt das? Ein kritischer Blick auf die aktuelle Studienlage.

Eine Zahl soll sinnbildlich für das sogenannte „6. Aussterben“ stehen, das derzeit die Biosphäre heimsucht: Die Populationen von Fluginsekten sollen in den letzten Jahrzehnten in Deutschland um 75 Prozent zurückgegangen sein. Diese alarmierende Beobachtung wurde erstmals im Jahr 2017 gemacht, wobei eine erste Veröffentlichung eine eher kleine Anzahl von Standorten mit Beobachtungen aus den Jahren 1989 bis 2016 einbezog. Ende 2019 fand eine in der renommierten Wissenschaftszeitschrift „Nature“ veröffentlichte Studie, die sich über einen kürzeren Zeitraum, dafür aber in wesentlich größerem Rahmen, erstreckte, die gleiche Größenordnung.

Diese wissenschaftlichen Publikationen wurden bei ihrer Veröffentlichung von der Presse ausführlich kommentiert. Seither werden sie regelmäßig angeführt, um eine drastische Reduzierung des Pestizideinsatzes zu fordern. Innerhalb von zwei Jahren haben diese beiden Publikationen somit einen wissenschaftlichen und politischen Konsens erzeugt. Und dies, obgleich frühere Veröffentlichungen zu diesem Thema zweifellos signifikante, allerdings weit weniger dramatische Rückgänge der Insektenpopulationen beobachtet haben. Wie wurden diese alarmierenden Zahlen berechnet, wie hoch ist der Anteil der Landwirtschaft an diesem Rückgang? Versuchen wir doch einmal, über die Zusammenfassungen dieser Publikationen hinauszugehen...

Eine erste Veröffentlichung von zweifelhaftem Wert

Wir werden kurz auf die erste Publikation (Hallmann et al. 2017) eingehen, deren gravierende methodische Schwächen bereits in einem früheren Artikel aufgezeigt wurden. Um die wichtigsten Kritikpunkte zusammenzufassen:

  • Es handelt sich nicht um eine langjährige Beobachtungsreihe an bestimmten Standorten, sondern um eine Zusammenstellung  einzelner Messungen, die an 63 verschiedenen Standorten gemacht wurden, von denen nur 26 über zwei oder mehr Jahre (und auch nicht mehr als viermal) überwacht wurden!
  • Die Ergebnisse werden durch die sehr ungleiche Gewichtung der Messjahre stark beeinflusst, insbesondere durch die Tatsache, dass die meisten der späteren Messungen im Jahr 2014 durchgeführt wurden, einem Jahr mit sehr ungünstigem Klima. Darüber hinaus scheint die als Frischgewicht gemessene Variable „Insektenmasse“ durch eine Änderung des Fallenüberwachungsprotokolls im Jahr 2007 beeinflusst worden zu sein (ohnehin gelten Trockengewichtsmessungen als zuverlässiger).

Abbildung 1: Nach Abb. 4a von Hallmann et al. 2017 (mittlere Biomasse der täglich gefangenen Insekten). Zur besseren Erkennbarkeit der Daten wurde die Regressionsgerade entfernt. Die Farben entsprechen nicht denen des Ausgangsdiagramms. Die Jahre 1989 bis 2006 sind hier in blau dargestellt (mittlere Zeit zwischen den Fallenerhebungen: 1 Woche), die Jahre 2007 bis 2016 in orange (mittlere Zeit zwischen den Fallenerhebungen: 2 Wochen). Diese mittleren Erhebungszeiten (im Artikel nicht explizit angegeben) wurden aus den Daten im Anhang S1 berechnet.

Wenn man die Regressionslinie, die den Leser unweigerlich beeindruckt, aus der Grafik entfernt, ist leicht zu erkennen, dass es keinen regelmäßigen Trend beim Rückgang der Insektenpopulationen gibt, sondern zwei aufeinander folgende Perioden:

  • Von 1990 bis 2006 (in blau) schwankten die durchschnittlich eingeschlossenen Biomassen meist zwischen 4 und 5 g/Tag, ohne klaren Trend.
  • Von 2007 bis 2016 liegen die Ergebnisse bei etwa 2 g/Tag, wiederum ohne jeden Trend.

Diese beiden Perioden entsprechen jedoch eindeutig einer Änderung des Überwachungsprotokolls, die von den Autoren nicht erwähnt wurde, die aber anhand der detaillierten Daten in Anhang S1 des Artikels leicht festzustellen ist: die durchschnittliche Verweildauer der Insekten in der Falle erhöhte sich zwischen diesen beiden Perioden von einer auf zwei Wochen, was höchstwahrscheinlich einen starken Einfluss auf ihre Dehydrierungsrate und damit auf ihre frische Biomasse hatte - die einzige Variable, die in dieser Studie betrachtet wurde!

„Diese beiden Perioden entsprechen eindeutig einer Änderung des Überwachungsprotokolls, die von den Autoren nicht erwähnt wurde.“

Über diese Studie wurde trotz ihrer offensichtlichen methodischen Schwächen in den Medien ausführlich berichtet. Die Skeptiker warteten auf eine Bestätigung. Diese erschien Ende 2019 in Form eines Artikels in „Nature“, einer der renommiertesten wissenschaftlichen Zeitschriften der Welt.

Im Zweifel für das Modell und gegen die Daten

Diese zweite Studie (Seibold et al. 2019) ist nach den üblichen wissenschaftlichen Kriterien von wesentlich besserer Qualität. Sie deckt in der Tat eine größere Anzahl von Standorten ab (150 in Grasland und 140 in Wäldern), und vor allem ist ihr Versuchsprotokoll viel strenger, da die Standorte diesmal tatsächlich jedes Jahr beobachtet wurden. Darüber hinaus zählten die Autoren die Anzahl der beobachteten Arten, ihre Abundanz (Anzahl der Individuen) und ihre Biomasse, was eine viel reichhaltigere Analyse der Ergebnisse ermöglicht. Diese Studie berichtete ebenfalls von sehr starken Populationsrückgängen: in der Graslandschaft ein Rückgang der Biomasse um 67 Prozent, der Abundanz (Anzahl der gefangenen Insekten) um 78 Prozent und der Artenzahl um 34 Prozent. Diese Publikation wurde als Bestätigung der vorhergehenden begrüßt, aber in Wirklichkeit sind ihre Ergebnisse sogar noch alarmierender: Der Rückgang erfolgte zwischen 2008 und 2017, d.h. in nur 10 Jahren, während die Studie von Hallmann et al. einen Zeitraum von 28 Jahren (1989 bis 2016) betrachtete.

Eine sorgfältige Untersuchung der Ergebnisse zeigt jedoch entscheidende Unterschiede zwischen den beiden Studien – und vor allem, dass ihre Übereinstimmungen nicht wirklich in die Richtung gehen, die die meisten Beobachter zu sehen glaubten!

Bei Hallmann et al. sahen wir, dass die den Daten überlagerten Regressionslinien den Blick des Lesers in eine bestimmte Richtung lenkten. Unbeeindruckt vom hohen wissenschaftlichen Ansehen von „Nature“ werden wir uns daher erlauben, dort auf die gleiche Weise vorzugehen, d.h. mit einer kleinen Bereinigung der Grafiken zu beginnen, um zunächst nur die Daten selbst zu betrachten. Nehmen wir das Beispiel der Häufigkeit der in der Weidelandschaft gefangenen Gliederfüßer (die beobachteten Trends sind für die Biomasse und die Anzahl der Arten gleich):

Abbildung 2: Erster Ausschnitt aus Abb. 1c von Seibold et al. 2019 : Jährliche Häufigkeit der im Grasland gefangenen Gliederfüßer. Die schwarzen horizontalen Balken stellen den Median dar, die blauen „Kästchen" die Grenzen des 25. und 75. Perzentils (was bedeutet, dass 50 Prozent der Daten noch weiter vom Median entfernt sind als die Grenzen dieser Kästchen).

Der in den Rohdaten zu erkennende Trend ist noch überraschender als der von Hallmann et al.: Bei dieser Untersuchung hat es offenbar in nur 2 Jahren (von 2008 bis 2010) einen totalen Zusammenbruch der Populationen gegeben, gefolgt von großer Stabilität von 2010 bis 2017. Vorausgesetzt, die Daten sind wirklich repräsentativ. Denn das Ergebnis für 2008 – das einzige Jahr, welches sich wirklich von den anderen abhebt – ist mit einer enormen Standardabweichung behaftet, die jeden Vergleich mit den Folgejahren unmöglich macht. Die Autoren liefern keine statistischen Analyseergebnisse zum Vergleich der Jahre, aber aus der Grafik geht hervor, dass sich kein Jahr signifikant von den anderen unterscheidet, außer vielleicht 2008. Und selbst wenn man davon ausgeht, dass der Unterschied zwischen 2008 und den anderen Jahren statistisch signifikant ist, kann man sich über seine praktische Bedeutung wundern: Da es das erste Jahr der Beobachtungsreihe war, kann man davon ausgehen, dass die große Standardabweichung für diesen Zeitpunkt die Folge eines Problems der Homogenität der Messungen an den verschiedenen Standorten war, das später korrigiert wurde.

„Das Ergebnis für 2008 – das einzige Jahr, welches sich wirklich von den anderen abhebt – ist mit einer enormen Standardabweichung behaftet, die jeden Vergleich mit den Folgejahren unmöglich macht.“

Da die Studie in „Nature“ erschienen ist, begnügte sie sich selbstverständlich nicht mit unbedeutenden Ergebnissen. Obwohl die Rohergebnisse keinen konsistenten Trend zeigen, fanden die Autoren dennoch ein Modell, das einen signifikanten Trend über den gesamten Zeitraum nachweist:

Abbildung 3: Zweiter Ausschnitt aus Abb. 1c von Seibold et al. 2019: Statistisches Modell zur Simulation der Häufigkeit von im Grasland eingeschlossenen Arthropoden als Funktion des Jahres (blaue Linie), mit 95 Prozent Konfidenzintervall (hellblauer Bereich).

Hier ist etwas, was viel besser aussieht: eine schöne, stetige Kurve, die unaufhaltsam gegen den absoluten Endpunkt des Insektensterbens strebt, diesmal mit einem sehr vernünftigen Konfidenzintervall, dessen Breite mit der Zeit sogar gegen Null tendiert. Es sieht ebenso schön wie beängstigend aus, aber vergessen wir nicht, dass dieses Modell aus den teils fragwürdigen Daten berechnet wurde, die in der vorherigen Abbildung zu sehen sind. Man hätte daher gerne gewusst, ob diese Trendkurve signifikant bleibt, wenn wir das Jahr 2008 herausnehmen... Auf jeden Fall können wir sehen, dass sie die Wahrnehmung der Ergebnisse völlig verändert: Sie verwandelt den plötzlichen und nicht sehr glaubwürdigen Bevölkerungsrückgang zwischen 2008 und 2010, auf den eine „falsches Plateau“ von 2010 bis 2017 folgt, in einen stetigen Rückgang, der sich über ein gesamtes Jahrzehnt erstreckt.

Freilich handelt es sich diesmal um ein multivariates Modell, das das Klima und die Landnutzung in der Umgebung des Fangplatzes berücksichtigt. Es ist daher nicht notwendigerweise irreführend, wenn sich dessen Verhalten erheblich von dem der Rohdaten unterscheidet, und es können Trends festgestellt worden sein, die bei der Untersuchung der Rohdaten nicht erscheinen. Aber in diesem Fall wäre es wünschenswert gewesen, wenn die Autoren erklärt hätten, welche Veränderungen in den Inputvariablen die Regelmäßigkeit des beobachteten Trends erklären, wobei es sich bei diesen Inputs um Klimavariablen (die von einem Jahr zum anderen stark und in beliebiger Weise variieren) und um die Landnutzung (die sich viel langsamer verändert und die, wie die Autoren einräumen, im Übrigen keine sehr deutlichen Auswirkungen auf die beobachteten Populationen hat) handelt.

Wenn wir die beiden Studien im Detail vergleichen, erscheint es jedenfalls sehr kühn zu sagen, dass sie sich gegenseitig bestätigen. Wie ich bereits angemerkt habe, vermelden sie zweifellos weitgehend ähnliche Verringerungen der Biomasse (-76 Prozent für Hallmann, -67 Prozent für Seibold) - aber im ersten Fall handelt es sich um einen Rückgang über 28 Jahre, im zweiten Fall dagegen über nur 10 Jahre! Darüber hinaus ist für Seibold et al. dieser Rückgang der Biomasse fast vollständig auf die Differenz zwischen 2008 (mit sehr großen Insektenpopulationen) und den gesamten folgenden Jahren (mit viel geringeren Populationen) zurückzuführen. Im Gegensatz zu einer Bemerkung von Seibold et al. (Seite 672, unten in der 1. Spalte) werden jedoch bei Hallmann et al. keineswegs dieselben Trends beobachtet, wo 2008 im Gegenteil ein ganz gewöhnliches Jahr ist und sich von den Jahren 2009 bis 2016 überhaupt nicht unterscheidet. In ähnlicher Weise ist 2011 bei Hallmann et al. ein starker Populationszuwachs zu verzeichnen, während bei Seibold et al. nichts Vergleichbares zu beobachten ist. Tatsächlich ist die Diskrepanz im Jahr 2011 bedeutungslos, da es in diesem Jahr für Hallmann et al. nur einen Fangplatz gab. Eine einfache Illustration der offensichtlichen Verzerrungen aufgrund der schlechten räumlichen und zeitlichen Verteilung der Fangplätze in dieser Studie.

„Wenn wir die beiden Studien im Detail vergleichen, erscheint es jedenfalls sehr kühn zu sagen, dass sie sich gegenseitig bestätigen.“

Den Daten zufolge sind also die beiden Punkte, in denen die Studien übereinstimmen, nicht die von der medialen Berichterstattung hervorgehobenen:

  • In beiden Fällen gibt es keinen eindeutigen Trend über den gesamten erfassten Zeitraum, sondern eher Brüche zwischen zwei Zeiträumen: 1989-2006 gegenüber 2007-2016 bei Hallmann et al., allein 2008 gegenüber 2009-2017 bei Seibold et al. Im ersten Fall fällt die Abnahme mit einer Änderung der Häufigkeit der Fallenerhebungen zusammen; im zweiten Fall ist auch eine Verbesserung des Fallenprotokolls zu vermuten, da das erste Jahr von einer wesentlich höheren Standardabweichung der Messungen gekennzeichnet war als in den folgenden Jahren.
  • Der einzige Punkt, in dem sich die beiden Publikationen gegenseitig bestätigen, ist die Tatsache, dass keine der beiden Publikationen zwischen 2009 und 2016 signifikante Veränderungen in den Insektenpopulationen festgestellt hat.

Der Einfluss der Landwirtschaft

Auch wenn es wahrscheinlich ist, dass der in diesen Artikeln verkündete Rückgang stark überschätzt wurde, so bleibt es doch wahr, dass alle ernstzunehmenden Berichte zu diesem Thema einen signifikanten Rückgang der Insektenpopulationen in den letzten drei Jahrzehnten feststellen. Es bleibt daher interessant, zu untersuchen, inwieweit diese Publikationen diesen Rückgang auf  die benachbarten landwirtschaftlichen Anbauflächen zurückführen.

Der „Nature“-Artikel kündigt in seinem Titel an, dass der Rückgang der Arthropoden mit Faktoren auf der Ebene der Landschaft zusammenhängt, aber die Publikation bleibt sehr ausweichend in Bezug auf die Art dieser Faktoren. Die Autoren weisen darauf hin, dass das Ausmaß des Rückgangs nicht mit einer lokalen Intensivierung der Landnutzung in Zusammenhang steht, sondern dass dieser Rückgang an Standorten mit einem hohen Anteil landwirtschaftlicher Nutzflächen größer ausfällt. Dieser Befund ist nach wie vor schwer zu erklären, deutet aber in jedem Fall kaum auf einen Effekt durch Pestizide hin, von denen a priori angenommen werden kann, dass sie in der Nähe landwirtschaftlicher Anbauflächen stärker wirken als in größeren Entfernungen.

Auch die Autoren von Hallmann et al. beschäftigten sich mit der Frage nach möglichen umweltbedingten Ursachen des Insektenrückgangs. Merkwürdigerweise wird dieser Teil des Artikels kaum zitiert. Dies ist nicht verwunderlich: Nach dem von den Autoren entwickelten Modell ist die Nähe zu landwirtschaftlichen Anbauflächen negativ mit der Insektenpopulation korreliert, was eigentlich nicht anders zu erwarten ist: Eine Ackerkulturfläche ist naturgemäß ein Gebiet, auf dem die Artenvielfalt der Pflanzen reduziert ist, was wiederum die Artenvielfalt der Insekten stark reduziert, auch wenn es sich um eine Bio-Anbaufläche handelt. Auch die Artenvielfalt benachbarter Naturgebiete kann durch den Ackerbau beeinträchtigt werden. Unerwarteter ist jedoch die zeitliche Entwicklung des Effekts der landwirtschaftlichen Parzellen: Nach dem statistischen Modell ist er einer der wenigen Faktoren, deren Entwicklung den Rückgang der Insekten verlangsamt hätte (Abbildung 5 von Hallmann et al.)! Wenn dieses Modell richtig ist, würde es zeigen, dass die Nähe zu landwirtschaftlichen Nutzflächen nicht der Hauptgrund für den Rückgang der Insekten sein kann. Allerdings finde ich dieses Ergebnis genauso fragwürdig wie den Rest der Publikation, und werde ihm daher keine größere Bedeutung beimessen. Aber es ist aufschlussreich, dass die vielen Kommentatoren, die sich auf diesen Artikel berufen, um die Verfehlungen der Landwirtschaft anzuprangern, dieses unbequeme Ergebnis stets verschweigen.

„Es ist aufschlussreich, dass die vielen Kommentatoren, die sich auf diesen Artikel berufen, um die Verfehlungen der Landwirtschaft anzuprangern, dieses unbequeme Ergebnis stets verschweigen.“

„Wissenschaftliche Meinungspresse“

In einem früheren Artikel über Ernährungsepidemiologie habe ich festgestellt, dass bestimmte wissenschaftliche Veröffentlichungen – selbst in angesehenen Zeitschriften – zu Vorgehensweisen tendieren, die eher der politischen Meinungspresse vorbehalten sind: In einer Situation, in der sich die Daten für verschiedene Interpretationen eignen, zeigen diese Publikationen lediglich, dass die von den Autoren vertretene Meinung mit den beobachteten Fakten vereinbar ist, ohne zu prüfen, ob andere Interpretationen ebenfalls möglich sind. Dies ist bei dem Artikel in „Nature“ eindeutig der Fall:

  • Eine auf deskriptiven Statistiken basierende Analyse zeigt deutlich, dass es zwischen 2009 und 2017 keine signifikanten Veränderungen gibt, und legt nahe, dass die abweichenden Ergebnisse von 2008 auf ein Problem der Homogenisierung der Messungen zwischen den Standorten zurückzuführen sind.
  • Die Analyse, die sich auf die erklärenden Statistiken stützt, deutet im Gegenteil auf einen stetigen Rückgang über den gesamten Zeitraum hin.

Die zweite Hypothese ist die einzige, die in der Publikation vorgebracht wird.

Obwohl es bei Hallmann et al. weniger offensichtlich ist, stelle ich fest, dass auch dort die deskriptive Statistik der Daten von den Ergebnissen der statistischen Regressionsrechnung überlagert wird, was ihre Interpretation lenkt und Anomalien in der Verteilung dieser Daten verschleiert. Darüber hinaus wurde eine Änderung des Protokolls, die sich auf die Ergebnisse auswirken könnte, von den Autoren nicht erwähnt.

Weder die Autoren noch die jeweils beteiligten Fachzeitschriften können dafür getadelt werden. Es ist wahrscheinlich, dass keiner dieser Artikel in der vorliegenden Form vor 30 Jahren akzeptiert worden wäre, aber in der Zwischenzeit haben sich die Kriterien für die Beurteilung einer wissenschaftlichen Publikation erheblich geändert, selbst bei der Zeitschrift „Nature“, die ja bekanntlich global wahrgenommen werden will. Der Artikel von Hallmann et al. erschien in der weniger angesehenen, aber sehr einflussreichen Online-Zeitschrift „Plos One“ und rief keine offene Kritik aus wissenschaftlichen Kreisen hervor. Im Gegenteil, der wissenschaftliche Direktor von INRAE (französisches Institut für Agrar-, Ernährungs- und Umweltforschung), Christian Huyghe, bezeichnete ihn als „ausgezeichnet“. Und das in einem Artikel in der Zeitschrift des Vereins AFIS, einer Organisation, die sich zum Ziel gesetzt hat, „die Wissenschaft zu fördern und ihre Integrität gegen diejenigen zu verteidigen, die aus Profitgier oder ideologischen Gründen ihre Ergebnisse verfälschen, ihr eine Bedeutung zuschreiben, die sie nicht hat, oder ihren Namen benutzen, um Scharlatanerie zu vertuschen.“

In der Tat hat somit ein Paradigmenwechsel bei der Bewertung von Publikationen und wissenschaftlicher Qualität stattgefunden, ein stillschweigender, aber von der Mehrheit der wissenschaftlichen Autoritäten weitgehend mitgetragener Wandel. Die Gefahr liegt gerade in seinem unausgesprochenen Charakter, denn die breite Öffentlichkeit ist bei der alten Vorstellung geblieben, dass eine wissenschaftliche Publikation Ausdruck einer objektiven und unbestreitbaren Tatsache ist, die dieser gerade dann besondere Autorität verleiht, wenn sie politische Implikationen hat.

„Bestimmte wissenschaftliche Veröffentlichungen – selbst in angesehenen Zeitschriften – tendieren zu Vorgehensweisen, die eher der politischen Meinungspresse vorbehalten sind.“

Die Risiken, die mit dieser „Meinungswissenschaft“ verbunden sind, sind im Bereich der Ökologie mangels Kontroversen noch nicht erkennbar: Der Konsens der öffentlichen Forschung zu diesen Themen ist sehr stark, und Einwände, die von der nichtstaatlichen Forschung vorgebracht werden, werden leicht mit dem Hinweis auf Interessenkonflikte abgetan. Aber die Schäden beginnen sich in Bereichen zu bemerkbar zu machen, in denen es Streitigkeiten zwischen anerkannten Forschern gibt, wie etwa in der Medizin. Nehmen wir etwa die traurigen Auseinandersetzungen über die Wirksamkeit von Chloroquin gegen Covid-19. „The Lancet“, eine der renommiertesten medizinischen Fachzeitschriften, musste einen Artikel unrühmlich zurückziehen, der wahrscheinlich inhaltlich korrekt war, aber durch unverständliche Daten und grobe sachliche Fehler, die von den Gutachtern nicht erkannt wurden, diskreditiert wurde. Fehler, die letztlich den Befürwortern dieses Medikaments zugutekamen, deren Argumentation sich allerdings nicht durch wissenschaftliche Strenge auszeichnete. Auf lange Sicht können diese erschreckenden Beispiele die Wissenschaft im Allgemeinen nur diskreditieren und die Diskreditierung jeder Form von wissenschaftlicher Expertise verstärken.

Bis zum Jahr 2021!

Im Gegensatz zur politischen Instrumentalisierung zeigt keine der beiden hier besprochenen Publikationen eine direkte Wirkung von Pestiziden auf Insektenpopulationen. Darüber hinaus zeigen ihre Rohdaten keine signifikante Entwicklung dieser Populationen seit mindestens 2009.

Nur das statistische Modell der Publikation in „Nature“ weist auf einen signifikanten Trend beim Rückgang der Insekten in den letzten zehn Jahren hin. Allerdings ist es zum gegenwärtigen Zeitpunkt noch nicht möglich zu wissen, ob es sich tatsächlich um einen Trend handelt, den man in den Rohdaten allein nicht beobachten konnte, oder ob es sich um ein Artefakt handelt, das durch die Heterogenität der Daten zu Beginn des Experiments entstanden ist. Aber der Vorteil apokalyptischer Vorhersagen besteht darin, dass wir am Ende immer wissen, ob sie gerechtfertigt waren oder nicht. Manchmal ist es etwas langwierig, dies zu überprüfen, wie es bei der Vorhersage des Maya-Kalenders der Fall war: Erst im Dezember 2012, war klar, dass die Maya-Astrologen trotz ihrer ansonsten hervorragenden Leistungen einen Rechenfehler gemacht hatten. Im Falle des „Nature“-Artikels werden wir glücklicherweise früher zu einem Ergebnis kommen:

Abbildung 4: Extrapolation des Modells von Seibold et al. Die durchgehende blaue Linie stellt das Modell wie in Abb. 1c dargestellt dar, der gestrichelte Teil ist die Verlängerung des Trends 2010-2017.

Wenn wir die vom Modell gezeichnete Kurve verlängern, sehen wir, dass die Insekten bis 2021 von den deutschen Wiesen verschwunden sein werden. Wir schauen nächstes Jahr wieder vorbei, um herauszufinden, ob wir den Daten oder dem statistischen Modell glauben sollen!

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