09.01.2019

Wut ist noch keine Politik

Von Andrea Seaman

Titelbild

Foto: Olichel via Pixabay / CC0

Phänomene wie Hate-Speech-Bekämpfung und Safe Spaces haben mit mangelnder Impulskontrolle zu tun. Emotionen können politische Prinzipien aber nicht ersetzen.

Der Wutausbruch der Tennisspielerin Serena Williams im Finale der letztjährigen US Open schlug hohe Wellen. Sie bezichtigte den Schiedsrichter Carlos Ramos des Sexismus, nachdem dieser sie aufgrund einer Reihe von Regelbrüchen im Spiel gegen ihre Kontrahentin und spätere Siegerin Naomi Osaka mit Recht bestrafte. Manche Beobachter schlugen sich auf ihre Seite. Viele hatten aber auch den Eindruck, dass sie die Sexismus-Keule auspackte, weil ihr nichts anderes mehr einfiel, um sich zu verteidigen.

Wie kann es dazu kommen, dass jemand glaubt, behaupten zu können, die Ahndung von Regelverstößen durch einen Schiedsrichter können mit Frauenfeindlichkeit begründet werden? Es handelt sich um eine trotzige argumentative Kurzschlussreaktion aus dem diffusen Gefühl heraus, dass man sich mit dem Vorwurf des Sexismus letztlich immer noch irgendwie durchsetzen kann.

Die Vermischung von Leidenschaft und Politik kommt heute sehr häufig vor. Williams hat sich gewissermaßen als hilflose Wutbürgerin präsentiert. Ein Beispiel für den Trend, uns zunehmend von spontanen Impulsen leiten zu lassen und zu verlernen, unseren Verstand einzusetzen. Die Reaktion, die Williams in einer Situation extremer Anspannung zeigte, ist als Realitäts- und Diskursverweigerung heute allerdings im politischen Raum akzeptierter Alltag.

„Der Staat wird immer mehr von Gefühlen regiert.“

Man beobachtet das Phänomen an Universitäten, besonders im angelsächsischen Raum, wo es immer mehr sogenannte Safe Spaces (zu Deutsch: sichere Orte) gibt, in denen sich Studenten vor unliebsamen politischen Meinungen, die sie in ihrem fragilen Inneren erschüttern könnten, verstecken können. Kontroverse Redner erhalten an Universitäten im Zuge der No-Platform-Politik regelmäßig Absagen, wenn Studenten protestieren und behaupten, es beeinträchtige ihre mentale und emotionale Sicherheit, jemanden an ihrer Universität sprechen zu lassen, dessen Meinung sie politisch nicht teilen. Und in der Politik geht man per Gesetz gegen „Hassrede“ und beleidigende Meinungsäußerungen vor. Dies läuft de facto auf eine staatliche Kontrolle des emotionalen Lebens der Bürger hinaus, weil politische Autoritäten bestimmen wollen, welche Gefühle öffentlich ausgedrückt werden dürfen und welche nicht. Gleichzeitig zeigt es, wie der Staat immer mehr von Gefühlen regiert wird. Was als Hassäußerung und Beleidigung gilt, liegt nämlich im wütend glühenden Auge des indignierten Betrachters. In Großbritannien sehen wir schon die Konsequenzen dieser Tatsache, da in diesem angeblich liberalen Land die Beweislast bei einer „Hate-Speech“-Anschuldigung auf dem Angeklagten liegt. Hate Speech ist definiert als das, was vom Opfer oder jemand anderem als solche empfunden wird. Eine fragwürdige Umkehr der Beweislast, die der Willkür Tür und Tor öffnet.

Politik und Emotion

Wir haben es mit zwei ineinander verschlungenen Elementen zu tun: Politik und Emotion. War Williams’ Ausbruch politisch motiviert, wie man auf den ersten Blick zumindest meinen könnte? Nein, sie war wütend und griff in ihrer Not nach einer vermeintlich wasserdichten politischen Argumentation, die sie retten sollte.

Bei der Verbindung von Politik und Emotion ist die Reihenfolge wichtig. Wird jemand aufgrund der Erfahrung gesellschaftlicher Missstände wütend? Oder ist jemand frustriert und versucht, den eigenen Gefühlsausbruch durch ein politisches Statement zu legitimieren? Trifft das Erste zu, haben wir es mit einer Politik zu tun, die ein ideelles Fundament besitzt, auf ihren eigenen zwei Füßen steht, während die Gefühle ihr nachgeordnet sind, sich im schlechtesten Fall parasitär daran klammern und sich im besten Fall als authentische und leidenschaftliche Politik mit Herzblut ausdrücken. Vielleicht wäre eine solche Politik sogar systemisch darauf ausgerichtet, Gefühle als Waffe im Kampf für ideologische Ziele einzusetzen – in diesem Fall dem Kampf gegen einen vorgeblichen Sexismus. Zumindest wären wütende Emotionen nicht unbedingt fehl am Platz, wenn politische Prinzipien verletzt werden. Trifft aber, wie im Beispiel, das Zweite zu, sind wir in einer Situation, in der die Politik zum Untertan der Emotion wird – ja, wir könnten überhaupt nicht erst von einer Politik sprechen, wenn sich diese fundamental ihrer abstrakten Prinzipien entledigt und im Kern nur aus Gefühlen bestünde.

Die meisten unvoreingenommenen Beobachter waren sich ziemlich schnell einig darin, dass Williams versuchte, ihren Wutanfall im Nachhinein zu rechtfertigen. Solcherlei Externalisierungen der Verantwortung sind menschlich. Jeder kennt gerade in emotional angespannten Situationen den Impuls, die Schuld für das eigene Fehlverhalten bei anderen zu suchen. Anstatt zuzugeben, dass man einfach die Nerven verloren hat, sucht man nach Rationalisierungen, um in den Augen der anderen nicht als unkontrollierter Trottel dazustehen.

„Die identitätspolitische Spielart des Feminismus beruht auf einer narzisstisch anmutenden Überbetonung subjektiver Erfahrung.“

Eher ungewöhnlich ist, dass sie dabei auf eine politische Begründung zurückgegriffen hat. Anstatt ihren Fehler einzugestehen, schob sie die Schuld auf einen allgegenwärtigen Sexismus. Nur weil sie eine Frau ist, habe es sich der Schiedsrichter herausgenommen, ihr Fehlverhalten zu ahnden, und bei einem männlichen Tennisspieler würde er dies nicht tun. Das ist ungefähr so, wie wenn ein Fußballspieler eine rote Karte mit der Begründung zurückweisen würde, einer Frau wäre sie in gleicher Situation nicht gezeigt worden. Williams knüpft im vorliegenden Fall an aktuelle feministische Diskurse im Geist der Identitätspolitik an, was besonders kurios wirkt, weil sie als stresserprobte und hoch disziplinierte Leistungssportlerin sicher nicht dazu neigt, sich als schwach und als Opfer zu sehen.

Die Tyrannei der ersten Impulse

Die identitätspolitische Spielart des Feminismus, dessen Argumentationsmuster sie sich zu eigen machte, beruht auf einer narzisstisch anmutenden Überbetonung subjektiver Erfahrung, vor allem von Emotionalität. Im klassischen Sinne kultiviertes Verhalten, das auf Impulskontrolle setzt, um Werte und Tugenden wie Respekt, Umsichtigkeit, Besonnenheit, und damit letztlich Toleranz hochzuhalten, gilt ihm als altmodisch.

So leben wir in einer Zeit, die mehr und mehr von einer Tyrannei der ersten Impulse geprägt ist. Impulse, die, dem ersten emotionalen Eindruck entsprechend, einem anfänglichen Gefühl, das durch geübte und ernsthafte Reflexion verworfen würde, nicht nur freien Lauf lassen, sondern ihm in Kombination mit vorgefertigten Versatzstücken moralischer Empörung eine systematische Scheinrationalität verleihen und damit ihren tyrannischen Charakter noch verstärken. Ein weiteres Beispiel hierfür ist der Begriff (oder das Verbrechen, wie manche Studenten und Politiker meinen) der kulturellen Aneignung.

„Liegt kulturelle Aneignung vor, wenn ein Japaner chinesisch isst oder umgekehrt?“

Kulturelle Aneignung tritt in den Augen ihrer Gegner dann auf, wenn man es als Angehöriger einer Kultur wagt, Elemente einer fremden Kultur zu benutzen oder besprechen. Wenn also weiße Engländer Sombreros tragen, Curry essen oder über die Versklavung der Schwarzen in den USA oder den Imperialismus Großbritanniens sprechen, wird ihnen empört mitgeteilt, sie dürften all dies nicht tun, da sie nicht zu den Kulturen gehörten, denen diese Artefakte, Speisen oder Erfahrungen rechtmäßig gehörten. Das alles klingt nicht nur ziemlich verrückt, es hat auch verrückte Konsequenzen. Schnell kann man sich etwa in einem hohlen Streit darüber verlieren, ob kulturelle Aneignung vorliegt, wenn ein Japaner chinesisch isst oder umgekehrt.

Stellen sie sich vor, Sie sind ein deutschsprachiger Student an einer englischen Universität und der britische Dozent ist ein Spezialist für deutsche Geschichte. Nun sitzen sie in seiner Vorlesung und dann fängt er an, die Namen wichtiger historischer Figuren Deutschlands falsch auszusprechen. Nun könnte als erster Impuls ein Ressentiment gegen den Dozenten entstehen. Wie?! Der will mir was über deutsche Geschichte erzählen, obwohl er noch nicht mal richtig Goethe sagen kann? Schon Hobbes wusste: „Die geheimen Gedanken der Menschen befassen sich mit allen Dingen, ob heilig, profan, rein, obszön, schwer oder leicht, ohne Scham oder Schuldgefühl.“ Trotz dieser ersten Einfälle wird ein Student mit nur ein wenig Urteilskraft, um weiter mit Hobbes zu sprechen, seiner amüsanten Fantasie Einhalt gebieten und dem Professor den Respekt zollen, den er verdient, nicht zuletzt weil er davon ausgehen kann, dass er auf Grund von Wissen und Lebenserfahrung wahrscheinlich kompetenter ist als man selbst, aber auch, weil es sich beim Respekt vor plausibel legitimierten Autoritäten um eine äußerst vernünftige kulturelle Praxis handelt.

Heutzutage gilt es in eher „linken“ universitären Kreisen der angelsächsischen Welt bereits als rassistische Diskriminierung, wenn man einen ausländisch aussehenden Mitstudenten danach fragt, aus welchem Land er kommt. Die Frage selbst suggeriere nämlich, der angefragte Student sei irgendwie anders als der normale weiße Amerikaner. „Diskriminierung!“ rufen die Anhänger der politischen Korrektheit, unterstellen den Fragenden üble, rassistische Absichten und übersehen dabei, dass man die Frage auch als ehrliches Interesse am anderen deuten kann.

„Die Tyrannei der ersten Impulse ist die theoretische Systematisierung und öffentliche Behauptung eines natürlichen bösen Willens.“

Was aber, wenn der jemand nichts anderes hat, als diesen ersten Impuls der Leidenschaft, wenn es ihm nicht möglich ist, das spontane Gefühl zu verwerfen? Wenn jemand nicht anders kann als in dem Geschichtsdozenten einen Trottel zu sehen, bei der Frage nach der Herkunft Rassismus zu wittern oder eine ungünstige Schiedsrichterentscheidung als Ausdruck von Sexismus zu interpretieren?

Ohne die „Checks und Balances“ der Vernunft, die geübt und kultiviert werden müssen, die gute Impulse gewähren und dazu ermuntern, den schlechten Einhalt gebieten und sie zügeln, wird die Leidenschaft übernehmen. Und wenn dies geschieht, werden Unvernunft und negative Gefühle über die Vernunft triumphieren – gerade bei jungen Menschen, die ohnehin leidenschaftlicher sind. Ohne anderen Anhaltspunkt bläht man seine ersten negativen Impulse zu einer umfassenden Theorie auf.

Diese Kapitulation vor ersten Impulsen ist der erste Schritt in ein verschwörungstheoretisches Denken. Aber auch die Angst vor „Mikroaggressionen“ oder einer sexistischen Gesellschaft speist sich hieraus. Bei alledem bauscht man den emotionalen ersten Impuls, der die Existenz eines bösen Willens oder einer Unverschämtheit hinter normalen menschlichen Aktivitäten erkennt, zur umfassenden politischen Position auf. So kommt man etwa darauf, dass Weiße grundsätzlich eine Bedrohung für Schwarze, Männer eine Bedrohung für Frauen, Konservative eine Bedrohung für Liberale seien usw. Diese ersten Impulse metamorphosieren dann in einen Diskurs von „Machtstrukturen“, die ganz kompliziert sind und letztlich nur durch ein Gefühl bewiesen werden können.

Mit anderen Worten: Die Tyrannei der ersten Impulse ist die theoretische Systematisierung und öffentliche Behauptung eines natürlichen bösen Willens, der à la Hobbes in den Gedanken aller Menschen vorkommt – und idealerweise durch Vernunft und Zivilisierung im besten Sinne bekämpft werden sollte. Diese Zivilisierung ist nicht nur eine Negation der Tyrannei der ersten Impulse, sondern ein positiver Schritt zum Humanismus, zur Umarmung des guten Willens. Indem wir unseren guten Willen, den wir alle in uns tragen, dem Gegenüber schenken und in ihm zunächst einen rechtschaffenen Menschen sehen. Wenn jemand unhöflich oder böse zu sein scheint oder es ist, sollten in der Reaktion Höflichkeit und Menschlichkeit überwiegen. Shakespeare instruiert uns: „Behandelt“ Menschen „nach Eurer eignen Ehre und Würdigkeit; je weniger sie verdienen, desto mehr Verdienst hat Eure Güte“. Auf schlechten Fundamenten wächst nie Gutes.

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