19.05.2023

Die Tragödie der Palästinenser

Von Daniel Ben-Ami

Titelbild

Foto: 31774 via Pixabay / CC0

Palästinenser als globale Opfer zu behandeln, hat sie zum Spielball externer Kräfte gemacht, zu denen arabische Regime und der Iran gehören. Islamisten und ein UN-Hilfswerk tun das Übrige.

Vor einigen Tagen wurde der erste internationale Nakba-Tag, der von den Vereinten Nationen (UN) ausgerufen wurde, begangen. Er markiert den 75. Jahrestag der Gründung des Staates Israel nach dem gregorianischen Kalender und der anschließenden Vertreibung von rund 700.000 Palästinensern. Nakba bedeutet auf Arabisch „Katastrophe".

Das Narrativ, das die Uno hier vertritt, ist eindeutig. Israel ist dieser Sicht zufolge ein böser „Kolonial- und Siedlerstaat", der durch die brutale Unterdrückung der einheimischen palästinensischen Bevölkerung entstanden ist. Diese Vorstellung ist nicht neu. Die Palästinensische Befreiungsorganisation (PLO) vertritt diese Auffassung seit Mitte der 1960er Jahre. Erst 1998, 50 Jahre nach der Gründung Israels, rief die PLO selbst einen Nakba-Tag aus. Aber die Idee hat in letzter Zeit enorm an Boden gewonnen.

„Kolonialer Siedlerstaat" ist nicht die einzige abfällige Bezeichnung, die Israel regelmäßig angedichtet wird. Israel wird heute fast ausnahmslos als „Apartheidstaat" verhöhnt (eine Bezeichnung, die gelegentlich auch auf Myanmar angewandt wird). Israel wird zudem häufig beschuldigt, ethnische Säuberungen gegen die Palästinenser zu betreiben. In der Tat ist es in israelfeindlichen Kreisen üblich geworden, den jüdischen Staat als Schnittpunkt aller Übel in der Welt darzustellen. In den Worten der israelfeindlichen BDS-Bewegung vereint der Widerstand gegen Israel „die Kämpfe gegen Kolonialismus, Rassismus und Militarisierung sowie für das Klima und soziale Gerechtigkeit".

Aus dieser Perspektive ist Israel nicht nur ein mit Makeln behafteter Staat, wie jeder andere Staat auch, sondern ein universeller Unterdrücker im Zentrum eines globalen Systems der Unterdrückung. Dies hilft zu erklären, warum sich viele Linke mit einer solchen Besessenheit an Israel abarbeiten.

Nur wenige scheinen sich der katastrophalen Folgen bewusst zu sein, die eine solches Bild Israels für die Palästinenser hat. Die Folge dieser Darstellung Israels als universeller Unterdrücker ist, dass von den Palästinensern im Gegenzug erwartet wird, sich als universelle Opfer zu verhalten. Anstatt als Menschen behandelt zu werden, die das Recht haben, ihre eigene Zukunft zu gestalten, werden sie in die Rolle eines globalen Mitleidsobjekts gedrängt. Dieser wenig beneidenswerte Status untergräbt die Freiheit der Palästinenser zusätzlich, da er sie anfälliger für Manipulationen durch externe Kräfte macht. All dies hat sich für die Palästinenser als wirklich katastrophal erwiesen.

„Westliche Anti-Israel-Aktivisten haben mit ihrer Verurteilung des ‚israelischen Übels‘ und ihrer Verherrlichung des Opferstatus der Palästinenser die Situation weiter verschlimmert.“

Natürlich gehört zur palästinensischen Geschichte viel Leid. Aber das ist nicht einfach die Schuld Israels. Es ist auch die Schuld der arabischen Regime, des Irans und der islamistischen Bewegung. Die Uno hat selbst eine Schlüsselrolle in dieser schmutzigen Geschichte gespielt. Westliche Anti-Israel-Aktivisten haben mit ihrer Verurteilung des ‚israelischen Übels‘ und ihrer Verherrlichung des Opferstatus der Palästinenser die Situation weiter verschlimmert.

Der erste Schritt, um diese Situation zu verändern, ist der Versuch, ein ausgewogenes Bild der palästinensischen Geschichte zu entwickeln. Dies ist eine komplexere Aufgabe als allgemein angenommen.

Die Gründung Israels im Jahr 1948 ist ein guter Ausgangspunkt. Wir sollten nicht vergessen, dass der Anstoß für die massenhafte jüdische Auswanderung in das heutige Israel darin bestand, dem Antisemitismus in Europa nach den Schrecken des Holocaust zu entkommen.

Auch wäre es zu einfach, die moralische Schuld an der Vertreibung der Palästinenser einer Seite zuzuweisen. Es ist sicherlich richtig, dass die israelischen Streitkräfte in einigen Fällen Palästinenser vertrieben oder sie zur Flucht ermutigt haben. Es stimmt aber auch, dass die arabischen Regime und die damalige palästinensische Führung darauf bedacht waren, Israel von Anfang an zu vernichten. Es gab keinen ernsthaften Versuch einer Annäherung. Bei all dem handelte es sich um eine reale, komplexe Situation, auf die mit Fehlern behaftete Menschen zu reagieren hatten – und nicht um Pappfiguren eines simplen Gut-und-Böse-Schemas.

Für die Palästinenser waren die Ereignisse rund um die Gründung Israels im Jahr 1948 sicherlich eine Katastrophe. Ein relativ kleiner Teil von ihnen blieb in dem von Israel kontrollierten Gebiet, während viele andere in der arabischen Welt – und darüber hinaus – verstreut wurden. Diejenigen, die in das (damals von Jordanien kontrollierte) Westjordanland und in den (von Ägypten kontrollierten) Gazastreifen flohen, erlebten einen weiteren Schock, als Israel diese Gebiete 1967 eroberte. Israel hat sich 2005 einseitig aus dem Gazastreifen zurückgezogen, dessen Grenzen jedoch weiterhin von Israel und – was oft vergessen wird – von Ägypten kontrolliert werden. Das Westjordanland steht weiterhin unter israelischer Militärkontrolle, wobei die Autonomie der Palästinenser in den von der Palästinensischen Autonomiebehörde kontrollierten Teilen äußerst begrenzt ist.

„Die arabischen Regime haben die Palästinenser oft systematisch diskriminiert.“

Die palästinensische Geschichte ist komplizierter, als sie von der Uno und anderen dargestellt wird. Aber es gibt auch andere Aspekte, die stets vernachlässigt werden.

Die arabischen Regime haben oft Lippenbekenntnisse für die palästinensische Sache abgegeben, während sie gleichzeitig ihre eigene palästinensische Bevölkerung unter strenger Kontrolle hielten. Im jordanischen Bürgerkrieg in den 1970er Jahren beispielsweise tötete das jordanische Regime Tausende von Palästinensern und trieb die PLO-Führung aus dem Land. Im Jahr 1976 spielte die syrische Armee eine Schlüsselrolle beim Massaker an weiteren Tausenden von Palästinensern im Flüchtlingslager Tel al-Zaatar im Libanon.

Die arabischen Regime haben die Palästinenser oft systematisch diskriminiert. In einer Studie über den Libanon heißt es dazu:

„Die libanesische Regierung hat ihnen den Rechtsstatus von Ausländern zuerkannt, was ihre Rechte auf Gesundheitsversorgung, Sozialleistungen, Bildung und Eigentum beeinträchtigt. Infolgedessen leiden die meisten palästinensischen Flüchtlinge unter bitterer Armut und Arbeitslosigkeit [und] haben wenig Hoffnung auf eine Verbesserung ihrer Situation".

Diese Diskriminierung wird häufig mit dem Konflikt mit Israel begründet.

„Der Hintergrund der Weigerung der libanesischen Regierung, den palästinensischen Flüchtlingen, die innerhalb ihrer Grenzen leben, die Staatsbürgerschaft zu gewähren, besteht darin, dass die Integration der Palästinenser in die libanesische Gesellschaft ihr Recht auf Rückkehr in einen künftigen palästinensischen Staat negieren und das fragile sektiererische Gleichgewicht, auf das sich die libanesische Regierung stützt, stören würde.“

„Die palästinensischen islamistischen Gruppen unterstützen nicht die palästinensische Selbstbestimmung. Sie teilen, im Gegenteil, das islamistische Ziel, eine transnationale islamische Ordnung zu schaffen.“

In jüngster Zeit spielt der Iran eine größere Rolle bei der palästinensischen Tragödie. Sein Ziel ist es, seine regionale Präsenz auf Kosten Israels zu verstärken. So unterstützt er die schwer bewaffnete Hisbollah-Miliz der schiitischen Muslime im Libanon, um Israel zu bedrohen. Iran unterstützt auch islamistische Terrorgruppen, die unter Palästinensern agieren, wie die Hamas und den Palästinensischen Islamischen Dschihad.

Diese palästinensischen islamistischen Gruppen unterstützen, wie bereits dargelegt, nicht die palästinensische Selbstbestimmung. Sie teilen, im Gegenteil, das islamistische Ziel, eine transnationale islamische Ordnung zu schaffen. Sie stehen der nationalen Selbstbestimmung feindlich gegenüber. Die Palästinenser werden benutzt, um einen Kampf für eine islamistische Ordnung zu führen, die über nationale Grenzen hinausgeht.

Schließlich ist da noch die Uno. Sie verfügt über eine spezielle Organisation , das 1949 gegründete Hilfswerk der Vereinten Nationen (UNRWA), das sich um die große Zahl der Palästinenser kümmert, die im Westjordanland, im Gazastreifen und in den umliegenden Ländern noch immer als Flüchtlinge gelten. Das UNRWA unterscheidet sich vom UNHCR, der sich mit Flüchtlingen auf der ganzen Welt befasst.

Das Problem mit dem UNRWA ist, dass es dazu beiträgt, den Flüchtlingsstatus vieler Palästinenser aufrechtzuerhalten. Inzwischen gibt es nicht nur Flüchtlinge der ersten Generation, sondern auch solche der zweiten und dritten Generation und darüber hinaus. Anstatt die Palästinenser zu ermutigen, sich in die einheimische Bevölkerung zu integrieren, arbeitet das UNRWA daran, sie in Parallelstrukturen zu halten. Im Libanon sind viele Palästinenser gezwungen, in von der UNRWA betriebenen Flüchtlingslagern zu leben, die von der UNRWA betriebenen Schulen zu besuchen und von den mageren Zuwendungen der Organisation zu leben.

Der Konflikt zwischen Israel und den Palästinensern hat sich als äußerst hartnäckig erwiesen. Voraussetzung für eine Lösung des Konflikts ist jedoch, dass sich zahlreiche externe Kräfte nicht mehr einmischen. Die Darstellung Israels als universeller Unterdrücker fördert unweigerlich ein krasses Narrativ, in dem Israel als Quelle des Bösen dargestellt wird. Die Palästinenser in die Rolle des universellen Opfers zu drängen, ist womöglich noch schlimmer. Das hat sich als eine weitere Katastrophe für das palästinensische Volk erwiesen.

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