31.05.2024

Populismus als Antwort auf entnationalisierte Eliten

Von Frank Furedi

Titelbild

Foto: via Flickr / CC BY-SA 2.0

Beim Populismus geht es darum, den Nationalstaat ernst zu nehmen. Da sich die Eliten von ihren Nationen abwenden, füllt er für die Bürger eine wichtige Lücke.

Seit der Wende zum 21. Jahrhundert hat sich der Populismus zu einem Medium entwickelt, mit dem die westlichen Eliten ihre schlimmsten Ängste verarbeiten. In den Mainstream-Medien dient der Populismus als Symbol für eine dunkle, potenziell gefährliche Kraft, die die stabilen politischen Institutionen untergräbt, die in der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg sorgfältig aufgebaut wurden. Deshalb werden oft Begriffe wie extrem, rechtsextrem, autoritär, fremdenfeindlich und sogar faschistisch mit dem Wort populistisch verbunden. Die semantische Strategie, mit der der Populismus als Antithese zu demokratischen und liberalen Normen dargestellt wird, besteht darin, eine moralische Distanz zwischen ihm und dem Rest der Gesellschaft zu schaffen.

Der Darstellung des Populismus als moralische Krankheit liegt häufig ein hysterisches Narrativ über das Ausmaß der Bedrohung zugrunde, die er darstellt. Zuweilen wird Populismus als Virus medikalisiert. Manchmal wird das Wachstum einer als populistisch bezeichneten politischen Bewegung mit einer Infektion verglichen. Einige Gegner bezeichnen ihr Erstarken als Epidemie. „Die nächste Epidemie: der wiederauflebende Populismus", warnt ein Experte. „Populismus, Rassismus und Fremdenfeindlichkeit haben Europa infiziert", behauptet ein Autor bei Euractiv. Ein amerikanischer Wissenschaftler schreibt über „Populismus als kultureller Virus". Ein Essay über die spanische politische Partei Vox trägt den Titel „Ein politischer Virus? Der populistische Diskurs von VOX in Zeiten der Krise". In einem Facebook-Post der Jungen Europäischen Föderalisten heißt es: „Der Virus des Populismus, des Rassismus und der Fremdenfeindlichkeit hat Europa befallen".

Otto English, ein Kommentator bei Politico, schrieb hoffnungsvoll, dass das nächste Opfer des „Coronavirus" der „Populismus" sein werde. Andere waren da vorsichtiger und wussten  zu berichten, dass „Covid-19 den globalen Populismus nicht getötet hat".

Die Verwendung eines medizinisch geprägten Narrativs, das den Populismus als eine Form der moralischen Krankheit diagnostiziert, erinnert an die Verwendung der Massenpsychologie im 19. Jahrhundert, mit der die demokratischen Bestrebungen des Volkes delegitimiert wurden. Die Dämonisierung der Massen im 19. Jahrhundert nahm die heutige Pathologisierung des Populismus vorweg. Massenpsychologen wie Gustave Le Bon schrieben das Volk als eine Masse von Irrationalität und Wahnvorstellungen ab. Damals wie heute ist die Medikalisierung des öffentlichen Lebens Ausdruck des Hasses der Eliten auf die Mitglieder „sozialer Unterschichten", die es wagen, ihre Macht in Frage zu stellen.

„Antipopulistische Ansichten sind vor allem in der Oligarchie, die die Europäische Union regiert, weit verbreitet.“

In den letzten Jahren gingen optimistische Vorhersagen über den Niedergang des Populismus Hand in Hand mit düsteren Berichten über die Bedrohung, die von dieser angeblich gefährlichen politischen Kraft ausgeht. Hat Europa den Höhepunkt des Populismus erreicht?", fragte Paul Taylor bei Politico, bevor er voller Hoffnung feststellte, dass sich „das Blatt gegen die nationalistische Rechte gewendet haben könnte". In den letzten Monaten haben sich solche Hoffnungen in Verzweiflung verwandelt, denn es ist für alle offensichtlich, dass die als populistisch bezeichneten Bewegungen auf dem Vormarsch sind. Bei den Wahlen zum Europäischen Parlament im Juni wird die Zahl der Abgeordneten, die populistischen Parteien angehören, wahrscheinlich erheblich steigen. Es ist unwahrscheinlich, dass die entmenschlichende Sprache der Virologie viel dazu beitragen wird, das Voranschreiten des Populismus zu diskreditieren.

Antipopulismus der Eliten

Antipopulistische Ansichten sind vor allem in der Oligarchie, die die Europäische Union regiert, weit verbreitet. Sie weigert sich, populistische Parteien als legitime politische Gegner zu betrachten. Sie behandelt sie als Feinde statt als politische Gegner. Die EU unterstützt finanziell Projekte, die die Epidemie des Populismus eindämmen sollen. Ein solches Projekt mit dem Titel „Der populistischen Bedrohung begegnen: Politische Empfehlungen und pädagogische Instrumente" wird so begründet: „Populistische Stimmungen und Politik verbreiten sich in ganz Europa und spalten die Gesellschaft in ‚wir´ und ‚sie´“. Als „EU-finanziertes Projekt befasst [es] sich mit dieser Herausforderung und gewährleistet so die Stabilität liberaler Demokratien", heißt es in der Selbstdarstellung.

Durch die Subventionierung von Propaganda, um dem Einfluss populistischer politischer Bewegungen entgegenzuwirken, zeigt die EU, dass sie nicht alle europäischen politischen Parteien als legitime politische Partner ansieht. Ganz im Gegenteil möchte sie solche Parteien unter Quarantäne stellen. Am deutlichsten hat dies der ehemalige Präsident der Europäischen Kommission Jean-Claude Juncker zum Ausdruck gebracht, der den Kampf gegen den Populismus als eine Art Heiligen Krieg bezeichnete. Im Jahr 2016 warnte er vor der Gefahr, die von einem „galoppierenden Populismus" ausgehe. Als Juncker erklärte, dass „wir den Nationalismus bekämpfen" und „dem Populismus den Weg versperren" müssten, rief er Erinnerungen an den guten Kampf gegen den Faschismus wach.

„Die kulturellen Eliten, insbesondere die Intellektuellen, betrachten sich selbst als ihren national verwurzelten Mitbürgern völlig überlegen.“

Für Juncker sind Populismus und Nationalismus eng miteinander verwobene Bedrohungen für seinen Lebensstil. Aus seiner Sicht stellt ein starkes Nationalbewusstsein eine unmittelbare Bedrohung für das von den Eurokraten vorangetriebene föderalistische Projekt dar. Hinter der schrillen Anti-Populismus-Rhetorik verbirgt sich die Überzeugung, dass nationale Empfindungen der kosmopolitischen Perspektive untergeordnet werden müssen. Die meisten Eurokraten und Mitglieder der globalistischen Eliten haben sich so weit entnationalisiert, dass sie sich selbst eher als Weltbürger denn als Mitglied einer nationalen Gemeinschaft betrachten. Im Gegensatz zu den Menschen, die populistische Parteien unterstützen und sich mit ihrer Nation identifizieren, haben sich die kosmopolitischen Eliten entterritorialisiert. Wie der Soziologe Manuel Castells feststellte, sind die „Eliten kosmopolitisch, die Menschen sind lokal".

Hass auf die Nation

Losgelöst von ihrer Nation fehlt den kosmopolitischen Eliten nicht nur das Verständnis dafür, wie die Menschen ticken, sondern sie blicken auch mit Verachtung auf sie herab. Die kulturellen Eliten, insbesondere die Intellektuellen, betrachten sich selbst als ihren national verwurzelten Mitbürgern völlig überlegen. Zwei bekannte europäische Soziologen, Ulrich Beck und Anthony Giddens, haben beispielsweise behauptet, dass „der Nationalismus zum schlimmsten Feind der europäischen Nationen geworden ist". Die Philosophin Martha Nussbaum von der University of Chicago schrieb im gleichen Sinne, dass die Betonung des „patriotischen Stolzes [...] moralisch gefährlich" sei und betonte die ethische Überlegenheit des Kosmopolitismus gegenüber dem Patriotismus.

Die westlichen Kultureliten halten Patriotismus für ein provinzielles Leiden. Deshalb haben sich die Brexit-Gegner unter den britischen Politikern nach dem Referendum offen mit ihren EU-Kollegen verbündet und ihr Bestes getan, um den Brexit zu unterlaufen und dessen Anhänger unter ihren Landsleuten zu demütigen. In zahlreichen Kommentaren und Erklärungen haben sie angedeutet, dass sie mehr mit ihren europäischen Gesinnungsgenossen gemein haben als mit den vermeintlichen Spießern und Fremdenhassern, die für den Brexit gestimmt haben. Einige sind sogar so weit gegangen, damit zu drohen, das Vereinigte Königreich nach dem Brexit zu verlassen und sich in einem der „aufgeklärten" EU-Mitgliedsstaaten niederzulassen.

Die Spaltungen, die im Zusammenhang mit dem Brexit und den Kulturkämpfen zutage treten, werfen ein Schlaglicht auf eine selten diskutierte, aber dramatische politische Entwicklung, nämlich die Entnationalisierung und potenzielle Entterritorialisierung bedeutender Teile der westlichen politischen Klasse.

Oberflächlich betrachtet scheint der Trend zur Entnationalisierung der Eliten das Ergebnis des Globalisierungsprozesses zu sein. Zahlreiche Kommentatoren haben argumentiert, dass supranationale Institutionen die besten Köpfe anziehen, da globale Netzwerke nationale Netzwerke verdrängen. Unternehmer und Wissenschaftler beginnen, immer globaler zu denken und sich weniger an ihrer nationalen Zugehörigkeit zu orientieren. Die Entnationalisierung der Eliten ist jedoch nicht nur auf die Globalisierung zurückzuführen. Politisch und kulturell fühlen sie sich von ihren eigenen nationalen Institutionen und Zugehörigkeiten entfremdet. Vor dem Brexit hatten viele englische Europaabgeordnete das Gefühl, mehr mit einem französischen Kollegen gemeinsam zu haben als mit den Wählern, die sie gewählt haben. In ihrer Heimat führen die kulturellen Eliten ein Leben, das sich von dem der weniger begünstigten Bürger abgekoppelt hat. Einer der ersten Kommentatoren, der auf die Tendenz zur Entnationalisierung der Eliten aufmerksam gemacht hat, war der amerikanische politische Philosoph Christopher Lasch. Er schrieb 1995:

„Was auch immer man von Nationalstaaten halten mag, außerhalb ihrer Grenzen kann es kein demokratisches öffentliches Leben geben.“

„Diejenigen, die die Mitgliedschaft in der neuen Aristokratie der Gehirne begehren, neigen dazu, sich an der Küste zu versammeln, dem Landesinneren den Rücken zu kehren und Verbindungen mit dem internationalen Markt des schnellen Geldes, des Glamours, der Mode und der Populärkultur zu pflegen. Es ist fraglich, ob sie sich überhaupt als Amerikaner betrachten. Patriotismus steht in ihrer Tugendhierarchie jedenfalls nicht sehr hoch im Kurs."1 Lasch stellte fest, dass sie sich – anders als bei ihrer mangelnden Begeisterung für den Patriotismus – dem Multikulturalismus und der Vielfalt bereitwillig verschrieben haben.

Die globalistische Vorstellungskraft wird fast automatisch von einer Sichtweise angezogen, die auf die nationale Kultur und ihre traditionellen Werte herabblickt. Deshalb spielen die Mitglieder der globalistischen Elite und ihre Institutionen eine so zentrale Rolle in den aktuellen Kulturkämpfen. Gleichzeitig hat sich durch die Kulturkämpfe die Abkopplung der Eliten vom Leben der Nation verschärft. Aus dieser Perspektive fühlen sie sich ihren transnationalen Freunden näher als den Mitbürgern, „die nicht so denken wie wir".

Der Weltstaat ist keine Alternative

Die Argumente gegen die nationale Souveränität gehen von der angeblichen Überlegenheit universeller und humanitärer Werte aus. Der Universalismus wird jedoch zu einer Karikatur seiner selbst, wenn er in eine metaphysische Kraft verwandelt wird, die über den vorherrschenden nationalen Institutionen steht, durch die die Menschen der Welt einen Sinn geben. Der Versuch, die Souveränität zu entterritorialisieren, reduziert die Menschen auf ihre abstraktesten individuellen Eigenschaften. In Folge dessen werden die Bürger der kulturellen Werte beraubt, durch die sie ihrem Leben eine Bedeutung verleihen. Die Menschheit lebt nicht über oder jenseits der Grenzen und Institutionen, die sie unter großen Anstrengungen und Mühen geschaffen hat. Aus diesem Grund führte die Philosophin Hannah Arendt Folgendes aus:

Die Verwirklichung eines souveränen Weltstaates ist weder die Vorbedingung des Weltbürgertums noch der Gipfel der Weltpolitik, weil eine Weltregierung nahezu automatisch das Ende allen Bürgertums und aller Politik bedeuten würde.

Was auch immer die Motive der Befürworter sein mögen, das Projekt der Entterritorialisierung der Staatsbürgerschaft und der Schwächung der nationalen Souveränität bedeutet eine direkte Infragestellung der Demokratie und des öffentlichen Lebens. Was auch immer man von Nationalstaaten halten mag, außerhalb ihrer Grenzen kann es kein demokratisches öffentliches Leben geben. Nur wenn Bürger innerhalb einer geografisch begrenzten Einheit miteinander interagieren, kann die demokratische Entscheidungsfindung funktionieren und zu beeindruckenden Ergebnissen führen.

„Populismus kann vieles bedeuten, aber vor allem ist er die Antwort der Menschen auf diejenigen, die sie ihrer nationalen Identität berauben wollen.“

In seinem Aufsatz „Zum ewigen Frieden" (1795) entwickelte Immanuel Kant, der Begründer der modernen kosmopolitischen Philosophie, die Idee des „kosmopolitischen Rechts", das besagt, dass Fremde, die das Hoheitsgebiet eines fremden Staates betreten, nicht mit Feindseligkeit behandelt werden dürfen. Er nannte diese Forderung das
„Naturrecht der Gastfreundschaft". Kants Konzept des Rechts auf Gastfreundschaft implizierte jedoch nicht das Recht, sich niederzulassen, und es stellte die Legitimität territorialer Grenzen keineswegs in Frage. Er wandte sich gegen den Einsatz für eine grenzenlose Welt, da ein Weltstaat zu einer globalen Tyrannei führen würde. Vielmehr befürwortete Kant einen föderalen Zusammenschluss freier und unabhängiger Gemeinwesen, den er „einer Vereinigung der einzelnen Nationen unter einer einzigen Macht, die sich über die übrigen hinweggesetzt und eine Universalmonarchie geschaffen hat", vorzog. Er vertrat die Ansicht, dass Gesetzen, die über den Nationalstaat hinausgehen, die moralische Tiefe fehlt, die für die Ausübung von Autorität erforderlich ist, und warnte, dass „die Gesetze mit dem vergrößerten Umfange der Regierung immer mehr an ihrem Nachdruck einbüßen, und ein seelenloser Despotismus, nachdem er die Keime des Guten ausgerottet hat, zuletzt doch in Anarchie verfällt.“ Seine Vision des Kosmopolitismus unterscheidet sich stark von den Ansichten der Anti-Populisten von heute.

Kosmopolitisch gesinnte Politiker können die nationalen Bindungen der Menschen einfach nicht verstehen. Sie können auch nicht begreifen, warum sich Millionen von Europäern entschieden haben, politische Bewegungen zu unterstützen, die sie als Populisten anprangern. Sie sind so weit vom Leben der einfachen Menschen entfernt, dass keinen wirklicher politischer Kontakt zwischen diesen beiden Teilen der Gesellschaft mehr besteht.  Aus diesem Grund verstehen die kosmopolitischen Eliten nicht einmal die Menschen, die Zielscheibe ihres Hasses sind. Populismus kann vieles bedeuten, aber vor allem ist er die Antwort der Menschen auf diejenigen, die sie ihrer nationalen Identität berauben wollen.

Der Antipopulismus ist Ausdruck einer Ablehnung der Demokratie. Die Gegner des Populismus medikalisieren auch die Demokratie. Es ist erwähnenswert, dass der Metapher des populistischen Virus historisch gesehen die Assoziation von Demokratie mit Ansteckung und Kontamination vorausging. Historisch gesehen wurde die Angst vor der Demokratie am deutlichsten durch ihre Beschreibung als tödliches Virus zum Ausdruck gebracht. Der Anglikanerpriester Joshua Brooks machte 1841 auf diese vermeintlich gefährliche Krankheit aufmerksam: „Wir haben gesehen, dass Frankreich, Belgien, Italien, Polen und andere Orte vom revolutionären Geist befallen sind, dessen Hauptanstiftung das demokratische Virus ist".2 Glücklicherweise hat sich die Demokratie genau wie der Populismus als ansteckend erwiesen.

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