21.06.2024

Unkritisch Reisen: Vietnam

Von Niels Hipp

Die marktwirtschaftliche Entwicklung in Vietnam hat in den letzten Jahrzehnten viele Menschen aus der Armut geholt. Politisch bleibt der Staat repressiv.

Unser heute „unkritisch bereistes“ Land heißt Vietnam. Es liegt in Südostasien und ich bin 2017 dort gewesen. Viele Ältere denken dabei an den Vietnam-Krieg (1955-75), aber diese Zeiten sind lange vorbei. Mit einem BIP pro Kopf von ca. 4000 Dollar liegt Vietnam auf Rang 123 weltweit, nach Kaufkraft auf Rang 109. Das ist weniger als das kürzlich behandelte Algerien.

Das klingt erst einmal nicht berauschend. Man muss allerdings sehen, dass Vietnam sich auf einem steilen Aufstiegspfad befindet, wie der Historiker Rainer Zitelmann in seinem Buch „Der Aufstieg des Drachen und des weißen Adlers“ detailliert ausführt. Nach dem Sieg des kommunistischen Nordens über den kapitalistischen Süden Vietnams 1975 kam es nicht nur zur Wiedervereinigung Nord- und Südvietnams (1976). Es wurde die ineffiziente Planwirtschaft auch im Süden eingeführt, etwa durch die Kollektivierung der Landwirtschaft oder der Kleinhändler in Saigon, das zu Ehren des 1969 verstorbenen großen Vorsitzenden in Ho-Chi-Minh-Stadt umbenannt wurde. Es folgten Hungersnöte und die Flucht der „Boat people“, von denen etliche in der BRD aufgenommen wurden.

Die Hauptstadt Hanoi sei zu dieser Zeit „Sparta am Roten Fluss“ gewesen, tot, ohne Leben, ohne wirtschaftliche Aktivitäten, so der deutsch-französische Journalist und Kriegsreporter Peter Scholl-Latour – der sogar in die Gefangenschaft des Vietcong geriet – in seinem Werk „Der Tod im Reisfeld“. Nachdem man erkannt hatte, dass man in einer Sackgasse steckte, öffnete man sich 1986 – acht Jahre nach China – langsam für die Marktwirtschaft. „Doi-Moi“ (Erneuerung) hieß das Schlagwort. Privateigentum an Produktionsmitteln war nunmehr erlaubt, 1987 öffnete sich das Land mit einem Investitionsgesetz für ausländische Investoren. Das wirkte: Lebten 1993 noch 58 Prozent der Haushalte in absoluter Armut, waren es 2020 nur noch 5 Prozent der Vietnamesen, die absolute Armut ist also beinahe beseitigt. Allerdings liegt für deren Definition die Grenze sehr niedrig, bei weniger als 1,90 Dollar pro Tag, also nicht einmal 60 Dollar pro Monat. Man kann es auch anders wenden: Vietnams  BIP pro Kopf lag 1990 bei knapp 100 Dollar pro Kopf und zuletzt bei 4000 Dollar. Diese nominelle Steigerung um den Faktor 40 in wenigen Jahrzehnten entspricht real etwa dem Faktor 6, was immer noch sehr beachtlich ist.

Man spürt gerade in Ho-Chi-Minh-Stadt die wirtschaftliche Dynamik und das unternehmerische und kapitalistische Umfeld. Wohlstand ist hochangesehen, man will reich werden. Reiche werden bewundert, nicht schief angeschaut. Neid ist in Vietnam nicht sehr verbreitet, wohingegen sich Deutschland laut Zitelmann „Neidvizeweltmeister“ nennen kann – nach Frankreich. Leistung wird belohnt und erwartet, das Leistungsniveau im Bildungswesen wird nicht – wie in Deutschland – immer mehr nach unten gedrückt. Die Begeisterung für „De-Growth“ dürfte sich in Grenzen halten. Auch Äußerungen des Juso-Vorsitzenden Philipp Türmer über „reiche Schmarotzer“ oder die Drohung, aus 226 Milliardären 226 Millionäre zu machen, dürften in Vietnam auf Unverständnis stoßen. Noch nirgendwo auf der Welt ist es den Armen besser gegangen, wenn es weniger Reiche gegeben hat, merkt der Journalist Hugo Müller-Vogg zurecht an.

„Während man wirtschaftlich einen Turnaround zur Marktwirtschaft geschafft hat, sieht es politisch ganz anders aus: Vietnam ist noch immer ein Einparteienstaat unter Leitung der Kommunistischen Partei.“

In Vietnam gebe es weniger Marxisten als in Deutschland, so Rainer Zitelmann. Er weist völlig zurecht darauf hin, dass Kapitalismus nicht das Problem, sondern die Lösung ist, wie das Beispiel Vietnam eindrucksvoll zeigt. Im bereits „unkritisch bereisten“ Kuba hingegen hat es nur vereinzelte Liberalisierungen gegeben; dieses Land bleibt daher in einer Dauerwirtschaftskrise gefangen.

Während man wirtschaftlich einen Turnaround zur Marktwirtschaft geschafft hat, sieht es politisch ganz anders aus: Vietnam ist noch immer ein Einparteienstaat unter Leitung der Kommunistischen Partei. Was die politische Partizipation anbelangt, sieht es also schlecht aus. Auch bei Meinungs- und Pressefreiheit liegt Vietnam weit hinten, nämlich auf Platz 174 von 180 in der „Rangliste der Pressefreiheit“. Beim Demokratieindex liegt Vietnam auf Rang 136 von 167 und wird als „autoritäres Regime“ klassifiziert.

Diese unbefriedigende Situation – kaum politische Rechte, gleichzeitig eine dynamische wirtschaftliche Entwicklung – führt zu einer Erkenntnis, die gerade für westliche Journalisten mitunter schwere Kost ist: Für Wohlstand kommt es nicht auf Demokratie oder Meinungs- oder Pressefreiheit an, diese können sogar sehr stark beschränkt sein. Entscheidend sind die wirtschaftlichen Grundrechte wie Schutz des Eigentums, Vertragsfreiheit sowie Berufsfreiheit, kombiniert mit einer Offenheit für neue Technologien. Im Westen haben wir eine andere historische Entwicklung erlebt: Im 19. Jahrhundert gingen der Kampf um politische und wirtschaftliche Freiheit oft Hand in Hand, das Bürgertum war die tragende Schicht. Eine solche Entwicklung gab es anderen Teilen der Welt, etwa in Vietnam, nicht.

Einerseits kann die Öffnung der Wirtschaft zu Risiken führen, wie der Untergang der UdSSR gezeigt hat, nämlich dass dann auch politische Freiheitsrechte gefordert werden und am Ende die Einparteienherrschaft zerfällt. Daher ist es für die Kommunistischen Parteien in Vietnam, aber auch in China oder Laos wichtig, politische Freiheiten oder gar Angriffe auf die Einparteienherrschaft mit harten Strafen zu bekämpfen, was in Vietnam nach 1986 auch geschehen ist. Andererseits stabilisiert der wirtschaftliche Aufschwung das System. Das kennen wir auch aus Deutschland, wo das Wirtschaftswunder die junge BRD stützte –während umgekehrt der fehlende Aufschwung zur Destabilisierung der Weimarer Republik beigetragen hatte. Wenn politische Freiheiten in Vietnam wenig gewährt werden, ist die Konzentration auf den Wohlstand noch wichtiger, dann muss die Partei in diesem Bereich erst recht ‚liefern‘.

„Wer einmal etwas Exotisches probieren möchte, dem empfehle ich gerade in Nordvietnam den Verzehr von Hundefleisch.“

Was kann man in Vietnam besuchen? Die beiden größten Städte des Landes sind die Hauptstadt Hanoi und die Wirtschaftsmetropole Ho-Chi-Minh-Stadt. In letzterer finden sich nur einige wenige Sehenswürdigkeiten wie den Wiedervereinigungspalast, die alte Post, das Kriegsreliktemuseum und die Kathedrale Notre-Dame; das Stadtbild ist insgesamt sehr modern. Hanoi wiederum bietet historisch Interessanteres: Zunächst fällt auf, dass dort das Stadtbild noch stark von der französischen Kolonialzeit geprägt ist. Es gibt eine Zitadelle, den Literaturtempel, das Ho-Chi-Minh-Mausoleum, den Hoan-Kiem-See u.v.m. Am Abend kann man eine Wasserpuppentheater-Aufführung besuchen. Von Hanoi aus lässt sich ein Ausflug zur Halong-Bucht unternehmen, von Ho-Chi-Minh Stadt sind die Cu-Chi-Tunnel aus dem Vietnamkrieg sowie das Mekong-Delta lohende Ausflugsziele.

Zwischen den beiden größten Städten liegen noch einige interessante Sehenswürdigkeiten z.B. My Son mit den Ruinen einer alten Tempelstadt, Hoi An mit seiner schönen Altstadt sowie Hue mit der kaiserlichen Zitadelle. Man kann auch verschiedene Tempel besuchen. Dazu muss man wissen, dass viele Vietnamesen heute eine Art Volksglauben wie die  Verehrung der Vorfahren und die Anbetung von Gottheiten praktizieren und sich nur noch eine Minderheit dem Buddhismus zugehörig fühlt.

Noch ein kleiner Tipp zum Schluss: Wer einmal etwas Exotisches probieren möchte, dem empfehle ich gerade in Nordvietnam den Verzehr von Hundefleisch. Nein, liebe Hundefreunde, es werden dort keine Golden Retriever geschlachtet. Es sind kleine Hunde, die extra für die Fleischproduktion gezüchtet werden. In der EU ist das Angebot von Katzen- und Hundefleisch verboten. Mit steigendem Wohlstand scheint Hundefleisch zunehmend verpönt zu sein, wie das Verbot des Züchtens und Schlachtens von Hunden in Südkorea ab 2027 zeigt. Auch in Vietnam wird immer weniger Hund gegessen. Also: Beeilen Sie sich!

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