27.05.2024

Wir brauchen eine Leitkultur

Von Thilo Spahl

Titelbild

Foto: Jon Rawlinson via Flickr (CC BY 2.0 / bearbeitet)

Aber was kann man sich konkret darunter vorstellen?

Die CDU arbeitet daran, sich aus den Fesseln des Merkelismus zu befreien. Eine der Maßnahmen besteht darin, das Thema „deutsche Leitkultur“ wiederzubeleben. Im neuen Grundsatzprogramm heißt es:

„Mut zur Leitkultur! Wir wollen eine Gesellschaft, die zusammenhält. Alle, die hier leben wollen, müssen unsere Leitkultur ohne Wenn und Aber anerkennen. Zu unserer Leitkultur gehören die Achtung der Würde jedes einzelnen Menschen und die daraus folgenden Grund- und Menschenrechte, unser Rechtsstaat, demokratische Grundprinzipien, Respekt und Toleranz, das Bewusstsein von Heimat und Zugehörigkeit, Kenntnis der deutschen Sprache und Geschichte sowie die Anerkennung des Existenzrechts Israels. Nur wer sich zu unserer Leitkultur und damit auch zu unseren Werten bekennt, kann sich integrieren und deutscher Staatsbürger werden.“

24 Jahre ist es her, dass die CDU die erste Leitkulturdebatte in Deutschland anzettelte. Damals ist es gründlich schiefgegangen. Friedrich Merz, der einer der Protagonisten der Debatte war, kritisierte im Zusammenhang mit dem Tragen von Kopftüchern bei muslimischen Lehrerinnen im Unterricht, Zuwanderer, die auf Dauer in Deutschland leben wollten, müssten sich „einer gewachsenen freiheitlichen deutschen Leitkultur anpassen“. Er argumentierte gegen Multikulturalismus und Parallelgesellschaften und forderte von Ausländern in Deutschland, sie müssten „unsere Sitten, Gebräuche und Gewohnheiten akzeptieren. (zitiert nach Wikipedia).

Als Sieger des Ideenstreits ging damals eindeutig „Multikulti“ hervor. Die Leitkultur konnte erstmal einpacken. Und ebenso Friedrich Merz. „Ihr braucht keine Debatte über Leitkulturen, sondern eine über den richtigen Leithammel", musste er sich vom damaligen Kanzler Gerhard Schröder sagen lassen. Merz gab 2002 den Fraktionsvorsitz an Angela Merkel ab.

„24 Jahre ist es her, dass die CDU die erste Leitkulturdebatte in Deutschland anzettelte. Damals ist es gründlich schiefgegangen."

Zehn Jahre später war es bekanntlich die Bundeskanzlerin, die konstatierte: „Der Ansatz für Multikulti ist gescheitert, absolut gescheitert!" Sie stimmte damit dem Urteil Horst Seehofers zu, der es noch deutlicher formuliert hatte: „Wir als Union treten für die deutsche Leitkultur und gegen Multikulti ein - Multikulti ist tot." Seehofer meinte etwas ganz Einfaches damit: Wer in Deutschland leben wolle, der müsse auch bereit sein, die „Alltagskultur“ zu akzeptieren. Und er begründete dies, drei Jahre vor Gründung der AfD, in einer Weise, die heute in der Rückschau unmittelbar einleuchtet. Er betonte bei seiner Rede, einen „Rechtsdrall" der Union strebe er keineswegs an. Er wolle vielmehr „die rechten Spinner verhindern". Man müsse die politischen Verführer von den Parlamenten fernhalten, indem man auf die Sorgen der Bürger eingehe, berichtete damals der Spiegel. Das hat offensichtlich nicht geklappt. Und es mag daran liegen, dass Merkel Multikulti damals zwar für absolut gescheitert erklärte, aber nie begraben hat.

Die europäische Leitkultur aus Sicht eines Syrers

Doch es war nicht Merz und nicht die CDU, die zuerst den Begriff der „Leitkultur“ prägten und gegen Parallelgesellschaften in Stellung brachten. Es war im Jahr 1996 der syrischstämmige Bassam Tibi, damals Professor für internationale Beziehungen in Göttingen, Research Affiliate in Harvard und Direktor des Euro-Islamischen Dialog-Forums an der Europäischen Akademie der Wissenschaften und Künste, der mit seinem Aufsatz „Multikultureller Werte-Relativismus und Werte-Verlust. Demokratie zwischen Werte-Beliebigkeit und pluralistischem Werte-Konsens“ mit der Forderung nach einer „europäischen Leitkultur“ die Debatte erstmals angestoßen hat. Er schrieb: „Der Kulturrelativismus von ‚Multi-Kulti' lehnt eine Leitkultur ab und läßt somit einen für alle verbindlichen Werte-Konsens nicht zu. Die Folge ist Werte-Beliebigkeit. […] Werte-Beliebigkeit ist letztlich eine auf Geringschätzung und Gleichmacherei der Kulturen basierende Gesinnung, die übersieht, daß in einem Gemeinwesen eine dominierende Kultur konsensuell die Voraussetzung für den inneren Frieden darstellt.“

Tibi beschrieb auch schon, wie Kritiker von Multikulti moralisch diskreditiert werden: „Das Bestehen auf einer Leitkultur, aus der die verbindlichen Werte herrühren, sowie die Forderung nach einer Integration der Zuwanderer – bei Aufrechterhaltung der kulturellen Vielfalt, denn Integration ist nicht mit Assimilation gleichzusetzen – werden von Kulturrelativisten als „Rassismus“ verfemt. Damit wird der Rassismus-Begriff seines barbarischen Inhalts (jeder Rassismus ist Ausdruck der Barbarei) entleert und lediglich als polemisches Schlagwort – mit der Funktion der Beschimpfung Andersdenkender  – verwendet.“ Genau dieses Spiel wird leider bis heute gespielt.

Warum brauchen wir eine Leitkultur? Auch das hat am besten Tibi schon 1996 formuliert. Wir benötigen sie als „Quelle einer verbindlichen Werte-Orientierung, eines friedlichen Miteinanders und eines demokratischen, pluralistischen Interessenausgleichs.“

„Vielen ist nicht bewusst, dass der Multikulturalismus eine Ideologie der Spaltung ist, eine Absage an ein wirkliches Miteinander, das ohne Integration nicht denkbar ist."

Er erläutert am Beispiel der USA den Unterschied zwischen Kulturpluralismus und Multikulturalismus: „Bisher hat die US-amerikanische, sich aus Migranten zusammensetzende Gesellschaft Menschen unterschiedlicher ethnischer und kultureller Herkunft nicht nur eine Heimat, sondern auch eine gemeinsame, d. h. eine amerikanische Identität gewährt. Dadurch ist Amerika eine kulturpluralistische, aber […] keine multikulturelle Gesellschaft in dem hierzulande verbreiteten Sinne.“ Dieses amerikanische Erfolgsmodell der „nation of immigrants“ sieht Tibi aufgrund der Ausbreitung der Multikulti-Ideologie als bedroht an.

Auch heute ist vielen nicht bewusst, dass der Multikulturalismus, der auch von der Neuen Rechten als „Ethnopluralismus“ gefordert wird, eine Ideologie der Spaltung ist, eine Absage an ein wirkliches Miteinander, das ohne Integration nicht denkbar ist.

Spielregeln für das Zusammenleben

Wir brauchen also eine Leitkultur. Und wir können sie nur haben und mit Leben füllen, wenn wir breit darüber debattieren, was darunter verstanden werden soll. Ich schlage vor, wir reden von Spielregeln für das Zusammenleben in einer pluralistischen Gesellschaft. Auf solche sollte man sich einigen können. Sie dienen nicht nur dazu, Ausländern klarzumachen, was von ihnen erwartet wird, sondern gelten natürlich für „diejenigen, die schon länger hier leben“ (Angela Merkel) gleichermaßen. Dabei kann es wohl nicht schaden, wenn man sie einmal etwas konkreter ausbuchstabiert, um jenseits des allgemeinen Bekenntnisses zu Menschenrechten, Demokratie, Rechtsstaat und Toleranz klarzumachen, worum es geht. Hier ein Versuch:

  • Man hält sich an Gesetze und unterstützt andere, wenn ihnen Unrecht geschieht. Wenn einem Gesetze oder Vorschriften nicht passen, setzt man sich im Rahmen des demokratischen Prozesses dafür ein, dass sie geändert oder abgeschafft werden. Gesetzgebung ist nicht Aufgabe der politischen Klasse, von Experten oder supranationalen Institutionen, sondern des Souveräns, also der Bürger.
  • Man achtet das Recht auf Selbstbestimmung und die Privatsphäre des Individuums. Und es gibt eine ganze Menge Sachen, die Privatangelegenheit sind. Beispielsweise sexuelle Vorlieben, bevorzugte Genussmittel, Essgewohnheiten, welches Auto man fährt, welche medizinischen Eingriffe man an sich vornehmen lässt, Sitten und Gebräuche.
  • Man verteidigt die Meinungsfreiheit. Da die Meinungsfreiheit ein zentraler Pfeiler der Demokratie ist, reicht es nicht, sie zu respektieren. Man soll sie aktiv gegen Angriffe verteidigen und nicht vergessen, dass sie auch für Meinungen gilt, die man selbst verabscheut.
  • Man denunziert Leute nicht und hetzt nicht gegen Leute, die anderer Meinung sind. Aber man kann und soll ihnen gerne öffentlich widersprechen. Aus dem Zusammenhang gerissene Zitate oder „Likes“ sind dabei keine ausreichenden Meinungsbelege. Eine Gesinnungspolizei ist abzulehnen.
  • Man respektiert Wissenschaftsfreiheit. Und als Wissenschaftler strebt man nach nichts als der Wahrheit.
  • Man respektiert Kunstfreiheit. Auch wenn man der Meinung ist, dass so manche Kunst keine Kunst ist.
  • Man respektiert Religionsfreiheit. Solange die Religion als Privatangelegenheit betrachtet und praktiziert wird.
  • Man respektiert, dass von Natur alle Menschen verschieden, vor dem Gesetz jedoch alle Menschen gleich sind. Es gilt Gleichberechtigung von Mann und Frau. Sonderrechte soll es nicht geben – egal, als was man sich identifiziert.
  • Man respektiert die Trennung von Religion und Politik. Das gilt auch für säkulare Neo-Religionen.
  • Man glaubt an Vernunft als Grundlage von Wissen und Handeln. Und an den daraus resultierenden Fortschritt.
  • Man versucht Probleme zu lösen. Und muss sich trauen können, sie ehrlich zu benennen.
  • Man respektiert die Trennung von Wissenschaft und Aktivismus. Die Förderung der Wissenschaft ist eine staatliche Aufgabe, die des Aktivismus nicht. Wer die wissenschaftliche Methode ablehnt, ist kein Wissenschaftler.
  • Man respektiert das Streben aller Menschen nach einem besseren Leben. Und deren unterschiedlichen Vorstellungen davon, was ein gutes Leben ausmacht.
  • Man übernimmt Verantwortung für das eigene Leben und strebt danach, den Lebensunterhalt durch eigene Arbeit zu bestreiten. Das ist leichter, wenn der Arbeitsmarkt nicht überreguliert ist und einem Bildungsangebote gemacht werden.
  • Man respektiert das Privateigentum. Und ebenso das Gemeingut.
  • Man lernt die Sprache des Landes. Das erleichtert Verständnis und Verständigung.
  • Man erzieht seine Kinder. Nicht seine Mitbürger. Natürlich in Übereinstimmung mit der Leitkultur.
  • Man nimmt Rücksicht auf andere. Zum Beispiel als Autofahrer auf Radfahrer und umgekehrt.
  • Wenn man den Eindruck hat, dass sich andere durch das eigene Verhalten belästigt fühlen, hört man damit auf. Außer sie sind übertrieben empfindlich.
  • Man hilft sich gegenseitig. Und organisiert Unterstützung für Bedürftige.
  • Man wirft seinen Müll in Mülltonnen. Nicht auf die Straße oder in die Landschaft.
  • Man bildet sich. Wobei man gerne auch Kenntnisse der Geschichte des Landes, in dem man wohnt, erwerben sollte.
  • Man fördert selbständiges Denken und setzt auf die Kraft des besseren Arguments. Und betrachtet seine Mitmenschen als mündige Bürger.
  • Man setzt sich für Chancengleichheit aller Menschen ein. Und verzichtet daher auf negative wie positive Diskriminierung.
  • Man erkennt das Existenzrecht Israels an. Ohne ständig zu betonen, dass wir das wegen unserer Geschichte halt müssen.
  • Man prüft, ob man mit normativen Festlegungen, wie sie zum Beispiel von anmaßenden Verfassern von Hausordnungen getroffen werden, übereinstimmt, und kommentiert diese kritisch.

Natürlich wird jeder bei der einen oder anderen Regel ein wenig schwächeln. Aber man sollte sich zumindest Mühe geben.

Das Schöne an dieser Leitkultur: Sie ist keine deutsche. Sie gilt überall. Für die Migration heißt das: Je umfassender sich Menschen schon in ihren Herkunftsländern an diese universalistischen Spielregeln gehalten haben, desto leichter werden sie sich integrieren. Und je mehr die in den Herkunftsländern vorherrschende Kultur mit diesen übereinstimmt, desto höher die Chance, dass die Neuankömmlinge sich in Deutschland gut zurechtfinden.

Das spezifische Deutsche muss in diese Hausordnung nicht hineingeschrieben werden. Es ergibt sich einfach aus dem Leben in Deutschland, aus den gewachsenen Institutionen, den kulturellen Hervorbringungen, der Geschichte, dem Alltag, der Sprache. Noch etwas wird deutlich: dass diese Regeln nicht nur für alle gelten sollten, die in Deutschland leben, sondern auch für den deutschen Staat. Eine Leitkultur sollte auch Schutz vor Anmaßungen des Staates bieten.

Die Frage der Identität

Bleibt abschließend die Frage nach Dingen wie Nationalgefühl, nationale Identität, Nationalstolz, Patriotismus. Wie verhält sich dergleichen zur Leitkultur? Man kommt durchaus ohne aus. Aber ist es etwas Schlechtes? Soll es negiert werden?

„Multikulturalismus ist als Gegenspieler der Leitkultur eine Form der Ausgrenzung, denn sie fordert, dass Immigranten kein Zugehörigkeitsgefühl entwickeln, sondern Fremde bleiben."

Der moderne, demokratische Nationalstaat braucht engagierte Bürger. Dies erfordert ein gewisses Maß an Identifikation, an Verbundenheit mit Land und Leuten. Eine Leitkultur universalistischer Prägung, wie die hier präsentierte, ist mit staatsbürgerlichem Patriotismus im Sinne ausgeprägter Heimatverbundenheit durchaus vereinbar. Aber auch mit einem weniger emphatischen Zugehörigkeitsgefühl. Aber eben nicht mit einer Ablehnung westlicher Werte. Und genau darum geht es in der Leitkulturdebatte. Multikulturalismus ist als Gegenspieler der Leitkultur eine Form der Ausgrenzung, denn sie fordert, dass Immigranten kein Zugehörigkeitsgefühl entwickeln, sondern Fremde bleiben. Auch elitärer Kosmopolitismus ist ein Gegenspieler der Leitkultur, eine Selbstausgrenzung, die das demokratische Gemeinwesen unterminiert.

Noch einmal Bassam Tibi, im Jahre 1996: „Der westliche Universalismus war historisch ein Anspruch auf eine universelle Geltung westlicher Werte. Mit der ‚Entwestlichung‘ der Welt – parallel zur zunehmenden Globalisierung – gehen zumal die Europäer, besonders aber die Deutschen, zum Gegenextrem über: Sie geben ihren Universalismus auf und führen an dessen Stelle den Kultur-Relativismus als einen Werte-Relativismus ein. Die Konsequenz ist das Fehlen von Werte-Verbindlichkeiten und eine Werte-Krise. Besonders wirkt diese Krise in Gesellschaften, in denen massive Zuwanderung stattfindet.“

Deutschland ist ein Einwanderungsland. Daher sollten wir uns zu einer universalistischen Leitkultur bekennen, die den Rahmen einer Bürgergesellschaft bildet.

jetzt nicht

Novo ist kostenlos. Unsere Arbeit kostet jedoch nicht nur Zeit, sondern auch Geld. Unterstützen Sie uns jetzt dauerhaft als Förderer oder mit einer Spende!